Der Fall Demjanjuk
als die beiden am Ludwigsburger Schloss vorbei zum Mittagessen gehen. Ob er sich an Demjanjuk erinnere. Natürlich, sagt Schrimm.
Walther berichtet von seinen Recherchen. Die Amerikaner wollten Demjanjuk loswerden, im Oktober entscheide der Supreme Court in Washington über die Aberkennung seiner US-Staatsbürgerschaft. Kurz vor dem Jubiläum der Zentralen Stelle. Die beiden Männer malen sich aus, wie sie im Dezember feiern, und alle amerikanischen Journalisten fragen Horst Köhler, wann Deutschland endlich Anklage erhebt gegen den Wachmann von Sobibor.
Nicht gut für die Festtagslaune, da sind sich die beiden einig, ehe ihr Mittagessen auf dem Tisch steht. Also betraut Schrimm Walther mit den Ermittlungen, entlastet ihn von anderen Fällen, gibt ihm sogar noch eine zweite Richterin als Unterstützung zur Seite. Gemeinsam mit seiner Kollegin Kirsten Goetze bohrt Walther sich in den Fall, elf, zwölf Stunden jeden Tag, auch am Wochenende. «Alles habe ich stehen lassen, das Haus daheim im Allgäu, meine vier Kinder, alles.»
Was Thomas Walther antreibt, was ihn motiviert, ist nicht leicht zu sagen. Ein detektivischer Instinkt vermutlich; zudem der Wille, die wenige Zeit, die noch bleibt, um NS-Verbrecher zu überführen, auch zu nutzen. Eine Rolle spielt fraglos auch, was Walther selbst einmal seine «Sozialisation» gegen Ende der sechziger Jahre genannt hat, zu der auch die Beschäftigung mit dem Versagen der bundesdeutschen Justiz nach 1945 gehörte – und die Bewunderung für den Auschwitz-Ankläger Fritz Bauer. Der von liberalen Professoren herausgegebene «Alternativ-Entwurf eines Strafgesetzbuches» von 1966, der in vielem Bauers Vorstellungen entsprach, stand schon ab dem zweiten Semester auf dem Hamburger Schreibtisch des Jura-Studenten Thomas Walther, «einfacher Druck, hektografiert, dunkelblauer flexibler Einband», wie der Richter sich später erinnerte. Hinzu kommt schließlich gewiss auch die gefühlte Bedeutung der Aufgabe: «Was Größeres als Demjanjuk kommt nicht nach», hat Walther in einem Gespräch mit der «Schwäbischen Zeitung» gesagt.
Was auch immer den Ermittler antreibt, er heftet sich an die Spuren des John Demjanjuk. Das vielleicht letzte große Verfahren gegen einen mutmaßlichen NS-Verbrecher in Deutschland hat begonnen.
Logik der Anklage
Mit der Energie eines Mannes, der seine Aufgabe gefunden hat, stürzt sich Thomas Walther im Frühjahr 2008 in die Ermittlungen. Er liest alles, was es an Gerichtsakten aus dreißig Jahren Prozessen gegen Demjanjuk gibt. Er vergräbt sich gemeinsam mit seiner Kollegin Kirsten Goetze in Archiven in Koblenz, Bad Arolsen, Jerusalem und Washington, um den verschlungenen Weg zu rekonstruieren, auf dem es Demjanjuk kreuz und quer durch Europa verschlagen hat, von einem Dorf in der Ukraine in ein Flüchtlingslager in Bayern – und weiter nach New York.
Walther läuft um das Haus in Landshut herum, in dem Demjanjuk Ende der vierziger Jahre zusammen mit anderen Gestrandeten aus der Ukraine gewohnt hatte. Er findet Demjanjuks Trauschein von 1947, die Trauzeugen von damals, seine Meldekarte im Keller des Rathauses von Feldafing. Innerhalb weniger Monate füllen sich 17 Aktenordner. Der Richter wird kurz vor der Pensionierung zum Detektiv. Ein Prozessbeobachter in München wird Walther später einmal scherzhaft den «Philip Marlowe vom Bodensee» nennen.
Walther steht bei seinen Ermittlungen vor zwei fundamentalen juristischen Problemen. Er muss, erstens, einen Anknüpfungspunkt für das deutsche Strafrecht finden. Selbst für potentielle Gehilfen des nationalsozialistischen Massenmordes ist die deutsche Justiz nicht automatisch zuständig. Um das zu prüfen, arbeitet sich Walther durch dieTransportlisten der Züge, die in Sobibor ankamen, und vergleicht sie mit den Opferlisten der Holocaust-Gedenkstätte Yad Vashem in Jerusalem. Rasch entdeckt er dabei, dass einige der deportierten Juden tatsächlich Deutsche waren, Emigranten, die vor Hitler in die Niederlande geflohen waren, dort aber in die Hände der Nazis fielen. Formal hatten die Flüchtlinge zwar ihre deutsche Staatsangehörigkeit mit der Ausreise aus dem Reich verloren, aber diese zusätzliche juristische Schikane haben bundesdeutsche Gerichte nach dem Krieg nie anerkannt. Wenn unter den Opfern von Sobibor aber Deutsche waren, dann gilt für die Morde dort auch das deutsche Strafgesetzbuch. Walther argumentiert zudem, Demjanjuk sei als Wachmann in Diensten der SS so etwas wie ein deutscher
Weitere Kostenlose Bücher