Der Fall Demjanjuk
wie häufig die Gerichtsverfahren gegen John Demjanjuk bereits ins Stocken geraten sind.
Seit dem 12. Mai 2009 sitzt Demjanjuk in der JVA Stadelheim in Untersuchungshaft. Noch nie seit seiner Ankunft war er in der Öffentlichkeit zu sehen, es gibt kein Bild von ihm, sorgsam wurde er von der Gefängnisleitung und seinen Anwälten abgeschirmt. Nun sitzt er da, im Zentrum des achteckigen Saales A 101 im Münchner Justizzentrum an der Nymphenburger Straße. Ein Mann im Rollstuhl und ihm gegenüber eine dicht gedrängte Reihe von Fotografen, fast eine Wand von professionell Neugierigen, die ihre Kameras hochreißen und auf ihn halten, nochmal und nochmal – und noch einmal. Niemand in dem überfüllten Saal sagt ein Wort, es ist nur das Klicken und Surren der Fotoapparate zu hören. Das Wild und seine Jäger, schießt es einem unweigerlich durch den Kopf. Demjanjuk hält die Augen hinter seiner großen Brille geschlossen, als reiche die Kraft nicht einmal mehr aus, die Lider zu heben. Nur sein Mund steht offen, ein paar Mal schließt er ihn, dann fällt das Kinn wieder herunter. Minutenlang sitzt er so im Blitzlicht, allein. Es ist ein beklemmendes Bild, und je länger die Fotografen auf den Angeklagten halten, der unbeweglich vor ihnen ausharren muss, unfähig, nur einen Schritt zur Seite zu tun, desto unerträglicher wird die Situation.
«Du konntest die Augen nicht von ihm lassen», lässt der amerikanische Schriftsteller Philip Roth eine Figur seines Romans «Operation Shylock» über einen Besuch beim israelischen Prozess gegen Demjanjuk sagen. «Du konntest die Augen nicht von ihm lassen. Niemand kann das beim ersten Mal. Ist er es oder ist er es nicht, war er es oder war er es nicht? – Beim ersten Mal geht Dir nur diese einzige Frage durch den Kopf.»
Wahrscheinlich rumort dieselbe Frage auch in den Köpfen der Zuschauer im Saal A 101. Ist er es? Ist das wirklich der Mann, der im Vernichtungslager Sobibor am Massenmord an Zehntausenden Juden beteiligt war, der Männer, Frauen, Kinder in die Gaskammern getrieben hat, fluchend, stoßend, prügelnd?
Es gehört zu den Eigentümlichkeiten vieler Strafprozesse, dass dieerste Konfrontation mit den Angeklagten für die Öffentlichkeit etwas Irritierendes, mitunter beinahe Enttäuschendes hat. Zumal in den großen NS-Prozessen erwartet das Publikum Bestien, Unmenschen, Abgesandte der Hölle. Doch herein kommen Biedermänner, Familienväter, Bürokraten. Oder es erscheint, wie in diesem Fall, ein Greis, reglos, kraftlos, merkwürdig abwesend. Ein ersichtlich gebrechlicher Mann an der Schwelle zum Tod. Niemand weiß, wie lange er noch zu leben hat. Nur eines scheint sicher: Die Frist ist kurz.
Im Blitzlichtgewitter: Demjanjuk, eingehüllt in Decken im Rollstuhl sitzend, bei Prozessbeginn am 30. November 2011.
Endlich fordert ein Wachtmeister die Fotografen auf, Schluss zu machen. Einer nach dem anderen senken sie ihre Kameras, packen zusammen und verlassen den Saal. Der Angeklagte wird in seinem Rollstuhl ein wenig näher an die Richterbank geschoben. Seine junge Dolmetscherin Oksana Gerlach, eine attraktive, dunkelhaarige Frau mit kurzem Rock, setzt sich neben ihn, sein Anwalt begrüßt ihn kurz, und schließlich, während das Publikum sich erhebt, wie es üblich ist, betreten die drei Richter den Saal, begleitet von den beiden Schöffen.
Zum ersten Mal sind damit alle Menschen im Gerichtssaal versammelt, die in den kommenden Monaten den Prozess gegen John Demjanjuk bestimmen werden.
Saal A 101, der größte Raum im Justizzentrum an der Nymphenburger Straße, ist eine karge, achteckige, fensterlose Halle. Es gibt kaum Tageslicht darin, nur zwei hohe Glasschlitze hinten, dort, wo die Zuschauer sitzen. Die Ausstattung ist sachlich und nüchtern: glatt verputzte, cremefarbene Wände, grau-brauner Teppichboden, Stahlrohrstühle mit orangefarbenen Polstern. Über den Köpfen der Richter schweben enorme keilförmige Deckensegmente, als habe der Architekt die Juristen an die große Verantwortung mahnen wollen, die auf ihnen lastet. Nichts erinnert an den Prunk historischer Gerichtssäle, die mit ihrer Wucht Zeugen und Angeklagten einzuschüchtern vermögen. Saal A 101 kennt nur einen einzigen Schmuck, ein kleines Kruzifix, das rechts von der Richterbank über einer weiteren Seitentür hängt.
In dem achteckigen Raum stehen in mehreren Kreisen die Tische der Prozessbeteiligten. Vorn, leicht erhöht, sitzen an einem langen, dunkelbraunen Nussbaumtisch die Richter: in
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