Der Fall Demjanjuk
munterem Lächeln und tailliertem Goldknopf-Sakko, der sich recht wohlzufühlen scheint in seiner Rolle. Er ist niedergelassener Arzt, Professor für Allgemeinmedizin an der Münchner Ludwig-Maximilians-Universität, erfahrener Gerichtsgutachter. Dreimal habe er den Angeklagten untersucht, zuerst am Flughafengleich nach Demjanjuks Landung in München, dann zweimal in der Haftanstalt München-Stadelheim. Er habe Demjanjuks Ärzte kontaktiert, die betreffenden Unterlagen eingesehen und mit Demjanjuk selbst gesprochen. Der Angeklagte leide unter mehreren Krankheiten, die auf sein hohes Alter zurückzuführen seien, erklärt Stein, und nennt eine Splitterverletzung im Kreuz, Herzschwäche, Kreislaufprobleme, Lendenwirbelschmerzen und einen erhöhten Harnsäurespiegel. Zudem klage Demjanjuk über Schmerzen in den Händen und im rechten Bein, weshalb ihm das Gehen schwerfalle. Er bedürfe regelmäßiger ärztlicher Behandlung und sei in der Krankenabteilung der JVA gut versorgt.
Trotz einer gewissen Verlangsamung sei Demjanjuk geistig vollständig orientiert, betont der Arzt. Im Gespräch «ist er sehr höflich und zuvorkommend», er könne einer Unterhaltung über einfache Gegenstände problemlos folgen und wisse auch, was ihm im Prozess zur Last gelegt werde. Zwar werde er nach einem längeren Gespräch relativ rasch müde, aber das mache Demjanjuk nicht verhandlungsunfähig. Kreislauf, Puls, die Sauerstoffwerte seien alle im Normbereich. Der Angeklagte könne an den Verhandlungstagen zweimal täglich je neunzig Minuten lang am Prozess teilnehmen. «Zwei Blöcke sind machbar, dann braucht er aber mindestens eine Stunde Pause, um sich auch einmal hinlegen zu können.»
«Besteht Aussicht, dass Demjanjuk in die normale Untersuchungshaft verlegt wird?», fragt Verteidiger Ulrich Busch den Arzt.
«Das ist nicht ausgeschlossen, aber ich wäre da skeptisch», antwortet der Sachverständige. «Eine Prognose ist schwierig. Die Schmerzen werden wohl bleiben. Das Herz wird vermutlich schlechter. Aber derzeit ist es stabil.»
John Demjanjuk selbst folgt der Verhandlung unbewegt, auch dem Gespräch über seinen Gesundheitszustand. Ein dösender Greis, ganz das Gegenteil eines Monsters. Meist hält er die Augen geschlossen, manchmal hebt er eine Hand, nur um sie gleich wieder schwer auf die Lehne des Rollstuhls fallen zu lassen, ganz selten murmelt er etwas Unverständliches vor sich hin.
Es fällt nicht leicht, diese beiden Eindrücke in Einklang zu bringen. Hier das Bild eines kranken alten Mannes, der im Gerichtssaal vielleichtdie letzten Wochen seines Lebens verdämmert – und daneben, nein: geradezu diametral entgegengesetzt der Befund des medizinischen Sachverständigen, der Demjanjuk eine für sein Alter recht robuste Gesundheit bescheinigt.
Wie ist dieser Widerspruch aufzulösen? Ist der Sachverständige etwa voreingenommen, misst er Demjanjuk mit strengeren Maßstäben als andere hochbetagte Angeklagte? Oder spielt Demjanjuk nur Theater? Ist er vielleicht gar nicht so leidend, wie er sich im Gerichtssaal präsentiert?
Unter den Zuschauern ist die Stimmung eindeutig. Die meisten halten Demjanjuk für einen Simulanten, trauen jedenfalls dem Augenschein nicht, hier quäle sich ein alter Mann durch die Verhandlung. «Nie ist ein Angeklagter so gepampert worden», schimpft einer der Nebenkläger, dessen Großeltern in Sobibor umgebracht worden sind. «Warum sagt der Richter nicht: ‹Setz Dich hin und sprich zu uns›?» Auch in den Medien gibt es Zweifel, wie krank Demjanjuk wirklich sei. Und am 2. Dezember wird die «Bild»-Zeitung schreiben: «Dabei geht es Demjanjuk nach Bild-Informationen viel besser, als er im Saal vorspielt. Außerhalb der Verhandlung soll er mit einer Ärztin geflirtet und über seinen kaputten Rollstuhl geschimpft haben. Zudem soll er gestern zwei große Teller Nudeln gegessen und gesagt haben: ‹Das schmeckt mir.›»
Um kurz nach halb vier schließt der Vorsitzende Richter den ersten Verhandlungstag. Demjanjuk wird in einem Krankentransporter zurück in die Haftanstalt gefahren, die Anwälte ziehen ihre Roben aus und klappen ihre Laptops zu, die meisten der betagten Nebenkläger gehen in ihre Hotels, um sich ein wenig von den Strapazen und der Aufregung des Prozessauftakts zu erholen. Monate werden noch vergehen, bis das Gericht ein Urteil fällt über John Demjanjuk. Aber schon am ersten Tag ist klar geworden, worum es in diesem Prozess im Kern gehen wird: um die Gesundheit des Angeklagten.
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