Der Fall Demjanjuk
der Mitte der Vorsitzende, Ralph Alt ein Zweiundsechzigjähriger mit hellem Bart und grauem Haarkranz, der die Verhandlung meist leise und bedächtig leitet. Neben ihm seine beiden jüngeren Beisitzer, Thomas Lenz und Helga Pfluger, Berufsrichter wie Alt, und wie er in schimmernde dunkle Roben gekleidet. Links und rechts von ihnen die beiden Schöffen, ein Mann und eine Frau, zwei zufällig ausgewählte Bürger in Anzug und dezentem Kostüm, die mit über John Demjanjuk zu Gericht sitzen, aber kaum je einmal eine Frage stellen.
Links von der Richterbank, vor der schmalen Seitentür, durch die Demjanjuk in den Saal geschoben worden ist, hat der Angeklagte seinen Platz, an manchen Tagen, je nachdem, wie er sich fühlt, sitzt er im Rollstuhl, an anderen liegt er auf einem Krankenbett, das eigens für ihn aufgebaut wird. Gleich neben ihm die Dolmetscherin, die Demjanjuk jedes Wort des Prozesses ins Ukrainische übersetzt, ein schier endloser, murmelnder Fluss von Sätzen, die auf den Angeklagten einströmen und die Vernehmungen der Zeugen begleiten wie eine zweite Tonspur. Was davon Demjanjuk wahrnimmt, ist unmöglich zu sagen.
Zwei Schritte vom Angeklagten entfernt, durch einen schmalen Gang von ihrem Mandanten getrennt, sitzen seine beiden Anwälte, der hoch aufgeschossene, leicht erregbare Ulrich Busch aus Ratingen und der rundlichere, schweigsame Günther Maull aus München. Ihnengegenüber haben die beiden Staatsanwälte ihre Plätze, zwei jungenhaft wirkende Männer Ende dreißig, Anfang vierzig, Hans-Joachim Lutz und Thomas Steinkraus-Koch, die den Gang der Verhandlung meist wortlos verfolgen. Nur ab und an müssen sie auf einen der vielen Anträge von Demjanjuks Anwalt Busch reagieren, und sie tun es meist so knapp wie möglich, ohne erkennbare Emotion.
Der Angeklagte wird am 22. Dezember 2009 im Bett liegend in den Saal A 101 des Landgerichts München gebracht.
Vis-à-vis der Richterbank schließlich sitzen die Anwälte der Nebenkläger und gleich hinter ihnen, in der ersten Reihe des Zuschauerbereichs, der eigentlich für die Presse reserviert ist, ihre Mandanten, betagte Damen und Herren, die meisten aus den Niederlanden, einige auch aus Deutschland, Israel und den Vereinigten Staaten, deren Angehörige in Sobibor ermordet wurden. Viele von ihnen werden in dem Prozess zu Wort kommen, und sie werden die Zuschauer zu Tränen rühren.
Mit ruhiger Stimme, die einen leichten bayerischen Klang hat, eröffnet der Vorsitzende Richter Alt um Viertel nach elf das Verfahren.
«Ich bitte, Platz zu nehmen. Ich wünsche allen einen guten Tag. Ich eröffne die Sitzung der 1. Strafkammer des Landgerichts München und bitte vorab um Entschuldigung für die Verspätung. Wir haben die Dauer der Einlassprozedur nicht abschätzen können.»
Das Publikum kommentiert Alts Worte mit Gelächter – tatsächlich hatte sich das enorme Interesse an dem Prozess seit Wochen abgezeichnet. Stundenlang hatten viele der Zuschauer und Journalisten frierend vor dem Gerichtsgebäude gestanden, manche seit fünf Uhr in der Frühe, und als mit zwei Stunden Verspätung um neun Uhr endlich die Ersten hereingelassen werden, schubsen, drängeln, schieben die Ungeduldigen wie im Winterschlussverkauf, manche fluchen und pöbeln, um ein Haar kommt es zu einer Prügelei. Ein israelischer Fernsehreporter schimpft anspielend auf den Mord an der Ägypterin Marwa El-Sherbini in einem Dresdner Gerichtssaal –, in Dresden komme man ganz leicht ins Gericht, sogar mit Messer. Am Ende muss die Hälfte der Wartenden draußen bleiben, weil der Saal offiziell nur 147 Personen Platz bietet.
Richter Alt ruft einzeln die Prozessbeteiligten auf: die Verteidiger, die Anwälte der Nebenkläger, dann will er die Personalien des Angeklagten feststellen, als sich zum ersten Mal Demjanjuks Anwalt Ulrich Busch zu Wort meldet.
Busch ist ein Riese, 1,98 Meter groß, randlose Brille, leichter rheinischer Akzent. Über Verbindungen in der ukrainischen Gemeinde in den Vereinigten Staaten ist er in Kontakt mit der Familie Demjanjuk gekommen, hat sich angeboten zu helfen, und wurde schließlich als Wahlpflichtverteidiger bestellt, neben dem Münchner Kollegen Maull. Zwischen den beiden ist die Arbeitsteilung offensichtlich. Busch führt das Wort und die Verteidigung, er attackiert, er befragt die Zeugen, rauft sich rhetorisch mit dem Gericht und den Nebenklägervertretern. Aber er kann auch ganz gut zwischen Laut und Leise variieren, kann durchaus charmant sein. Maull
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