Der Fall Demjanjuk
später, am Abend nach der Verhandlung, «hätte ich das Gefühl gehabt, wieder versteckt zu sein.»
Mehr als drei Dutzend Angehörige von Sobibor-Opfern haben sich als Nebenkläger an dem Prozess beteiligt, mehr als je zuvor in einem deutschen Strafverfahren, betagte Menschen aus den Vereinigten Staaten, aus Belgien, Deutschland und vor allem aus den Niederlanden. Längst nicht alle sind gekommen, manche haben den langen Weg gescheut, einige wollten in ihrem Leben nie wieder deutschen Boden betreten und werden von ihren Anwälten vertreten. Aber die, die sich aufgemacht haben, um zu erzählen, sitzen aufrecht und konzentriertim Gerichtssaal. Viele von ihnen sind auffallend korrekt gekleidet, die Herren fast alle mit Krawatte, einige sogar im Dreiteiler. Ein Sanitäter und eine Justizangestellte kümmern sich um die Nebenkläger, verteilen grüne Plastikbecher mit Mineralwasser, schenken nach, wenn es gewünscht wird, nehmen auch einmal einen der Zeugen in den Arm.
Auch das Gericht behandelt die Nebenkläger mit höflicher Vorsicht, der Vorsitzende fragt, wenn überhaupt, leise und sensibel nach, fast wie ein Therapeut, wie ein Prozessbeobachter notiert. Tatsächlich zeigt die Vernehmung der Nebenkläger, die sich über mehrere Tage hinzieht, besonders deutlich, wie sehr sich das Münchner Verfahren von den Frankfurter Auschwitz-Prozessen unterscheidet. «Hier waltet eine Instanz, die alles in sich aufgenommen hat, was wir über den Holocaust und seine Aufarbeitung zu wissen glauben: die Dimension der Verbrechen, die elende Justiz der Nachkriegsjahre, […] die verdrängte deutsche Schuld», hat der Schriftsteller und Jurist Lukas Hammerstein geschrieben. Und es stimmt, hier, in diesem Gerichtssaal, gibt es keinen Zweifel an der deutschen Schuld, es gibt keinen zornigen Widerwillen, sich damit zu befassen, keinen Wunsch nach Verdrängung, es gibt keine klammheimliche Sympathie mit den Tätern, im Gegenteil, es herrscht eine geradezu demonstrative Zuneigung zu den Nachfahren der Opfer. Hier sitzt ein Gericht, eine Staatsanwaltschaft, eine Öffentlichkeit, die alles richtig zu machen versuchen, was nach 1945 falsch gemacht wurde.
Aber immer wieder stellt sich bohrend die Frage, ob John Demjanjuk der Richtige für diese Richtigstellung ist.
Keiner der Nebenkläger will Rache nehmen, «wir sind ohne Hass», sagt einer von ihnen; sie behaupten ihre Geschichte, ihre Identität. Am Ende eines Lebens im Schatten des Holocausts wollen sie vor allem erzählen. Und was sie zu erzählen haben, schnürt den Zuhörern das Herz zusammen, selbst die professionellen Berichterstatter auf der Pressebank bekommen immer wieder feuchte Augen, nesteln an ihren Taschentüchern. Etwa, als Louis van Velzen, ein kleiner, zarter Mann, von dem Morgen berichtet, als sein Vater nach Westerbork abfahren musste, in das Durchgangslager, und von dort in den Tod. «Er stand am Fußende meines Bettes. Er reichte mir eine Brotdose mit Leckereien. Wirst Du jetzt gut für Mutter und Bruder sorgen?, fragte er mich.Ich habe das damals als Siebenjähriger versprochen. Aber ich wusste nicht, wie viel das bedeutet. Und ich habe es nicht halten können.»
Jüdische Häftlinge warten im Durchgangslager Westerbork auf ihre Deportation.
Max Degen zögert einen Moment, ob er dem Gericht den Brief aushändigen soll, den seine Eltern aus Westerbork nach Hause geschrieben haben, an die Verwandten, bei denen er als Säugling versteckt worden war. «Seien Sie vorsichtig», sagt er, als er das Papier dann doch dem Vorsitzenden überreicht. Der Vorsitzende Ralph Alt liest die paar Zeilen vor.
«Westerbork, 1. April 1943. Liebe Tante, lieber Onkel. Wie geht es Ihnen? Wie geht es unserem Neffen? Ist er brav?» Sie erkundigen sich nach einem Foto ihres Sohnes, den sie zur Tarnung ihren «Neffen» nennen. Und sie schließen mit den Worten: «Viele Grüße und tausend Küsse.»
Es ist das letzte Zeugnis, das Max Degen von seinen Eltern hat. Am 6. April wurden sie mit seinem älteren Bruder Isaias nach Sobibor deportiert, in einem verriegelten Güterzug, ausweislich der Transportliste gemeinsam mit 1989 weiteren Juden. Drei Tage dauerte der Transport.Dann, am 9. April 1943, wurde Degens Familie in den Gaskammern des Vernichtungslagers mit Motorabgasen erstickt.
Das Gericht nimmt eine Kopie des Briefes zu den Akten.
Was ist ein Prozess? Nur ein juristisches Verfahren? Ein Versuch, über Schuld und Strafe eines Angeklagten zu entscheiden? Oder ist es mehr als das?
Weitere Kostenlose Bücher