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Der Fall Demjanjuk

Der Fall Demjanjuk

Titel: Der Fall Demjanjuk Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Heinrich Wefing
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Um die Versäumnisse der deutschen Nachkriegsjustiz. Und um die Frage, ob es Recht sein kann, ob es Recht sein soll, dass bald 65 Jahre nach Kriegsende ein mutmaßlicher KZ-Wächter angeklagt wird, nachdem die Lagerkommandanten und Schreibtischtäter nie belangt wurden oder mit lächerlich niedrigen Strafen davon gekommen sind.

«Deportiert»
    Es ist ein einziges Wort, bei dem Philip Jacobs die Stimme versagt. Ein grauenhaftes Wort. Der feine alte Herr hält für einen winzigen Moment inne, holt tief Luft, setzt neu an, aber er bringt das Wort nicht heraus. Er kämpft damit, würgt daran herum, und als er es endlich hervorpressen kann, da überschlägt sich seine Stimme. Sie wird spitz und schrill und hoch, wie der Schrei eines Vogels. Wie ein Schrei des Entsetzens.
    «Deportiert.»
    Das ist das furchtbare Wort: «Deportiert» wurden seine Eltern und seine Ruth, «meine erste große Liebe», gerade 21 Jahre alt, alle im selben Zug nach Sobibor. Abtransportiert aus dem niederländischen Sammellager Westerbork, vergast im Vernichtungslager Sobibor am 23. Juli 1943.
    Philip Jacobs ist ein würdiger Greis. Er trägt einen blauen Blazer, ein weißes Hemd und eine gepunktete Krawatte. Sehr aufrecht hält er sich, trotz seiner 87 Jahre, nur das Gehen fällt ihm ein wenig schwer, und so stützt er sich auf seinen Anwalt und die Dolmetscherin, als er nach vorne tritt, an den Zeugentisch im Schwurgerichtssaal des Landgerichts München. Er ist einer der Nebenkläger in dem Strafverfahren gegen John Demjanjuk, und er hat sich gründlich auf seine Aussage vorbereitet.
    Präzise, in vorzüglichem Deutsch, spricht der pensionierte Apotheker aus Amsterdam davon, wie er seine Freundin Ruth, deren Eltern ausBerlin vor den Nazis nach Holland geflohen waren, in einem zionistischen Verein kennengelernt habe. Wie er sich in sie verliebt habe. Wie die deutschen Truppen 1940 die Niederlande «überfluteten», alle aber auf einen kurzen Krieg gehofft hätten. Wie ihn sein Vater zwei Jahre später gedrängt habe, außer Landes zu gehen. Wie er auf abenteuerlichen Umwegen über Kanada nach Großbritannien gelangt sei und sich zum Dienst in der britischen Armee gemeldet habe.
    Jacobs spricht gefasst und konzentriert, die Richter, die Staatsanwälte, die Journalisten hören ihm mit angehaltenem Atem zu. Nur Demjanjuk döst äußerlich unbeteiligt auf seinem Krankenbett, das eigens für ihn im Gerichtssaal aufgebaut worden ist. Wahrscheinlich ist der Angeklagte auch der Einzige, den es nicht durchzuckt, als Jacobs plötzlich bei dem schier unaussprechlichen Wort stockt und aufschluchzt.
    «Deportiert.»
    Es ist nicht leicht, ein Kind weinen zu sehen. Aber nur weniges ist so erschütternd wie ein weißhaariger Mann, der um seine Eltern weint. Oder um den Vater, den er nie kennengelernt hat. Fünf oder sechs Jahre alt sei er gewesen, erinnert sich Leon Vieyra, auch er Nebenkläger im Prozess gegen Demjanjuk, als er bald nach dem Krieg seine Mutter gefragt habe: «Warum habe ich keinen Vater? Andere Jungs haben einen Papa. Einen Papa, der mit ihnen Fußball spielt. Warum ich nicht?»
    Auch Leon Vieyra versagt die Stimme, als er das sagt, auch ihm kommen die Tränen. Aber auch er zwingt sich weiterzusprechen.
    «Mehr als siebzig meiner Angehörigen wurden ermordet. Ich konnte niemanden fragen, wie mein Vater war.»
    Und die Mutter?
    Sie musste untertauchen, als die Deportationen begannen, wurde von ihrem 14 Tage alten Baby getrennt, fand ihn erst Monate nach dem Krieg wieder. «Da war sie eine zornige Frau», sagt Vieyra. «Sie hat nie etwas erzählt. Sie hat sogar die letzte Postkarte meines Vaters zerstört. Sie wollte nicht, dass andere Menschen das lesen.»
    Es ist still im Gerichtssaal. Es gibt wohl niemanden, dem nicht Tränen in den Augen stehen. Nach einem Moment fragt der Vorsitzende Richter: «Gibt es Fragen an den Zeugen?» Die Staatsanwaltschaft hatkeine Fragen. Die Verteidiger von John Demjanjuk schütteln nur den Kopf. Was sollen sie auch fragen?

    Die Nebenkläger Rebecca Rittermann, Paul Hellmann, Philip Jacobs und Leon Vieyra (von links) am 30. November 2009 im Verhandlungssaal im Landgericht München.
    Leon Vieyra steht auf, geht zurück zur Bank, auf der die anderen Nebenkläger sitzen. Eine Dame reicht ihm ein Taschentuch. Hände recken sich ihm entgegen. Noch nie hat er öffentlich über das Schicksal seines Vaters gesprochen. Jetzt hat er es getan. «Die Welt muss das wissen. Wenn ich geschwiegen hätte», sagt er viel

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