Der Fall Demjanjuk
sitzt meist schweigend daneben und schaut in die Akten.
Auch jetzt, als Busch ankündigt, er habe einen «unaufschiebbaren Antrag» zu stellen. Der Prozess ist noch keine Viertelstunde alt. Im Namen seines Mandanten lehne er die drei Berufsrichter Alt, Lenz und Fluger sowie die beteiligten Staatsanwälte als befangen ab. Mit monotonerStimme liest Busch seinen schriftlich vorbereiteten Antrag vor. «Objektiv sachwillkürlich» sei der Prozess gegen seinen Mandanten. Der Verteidiger erinnert an die Freisprüche und niedrigen Haftstrafen, mit denen die Kommandanten des Lagers Sobibor und viele hohe SS-Offiziere in den fünfziger und sechziger Jahren vor deutschen Gerichten davongekommen sind: «Man fragt sich, wie es sein kann, dass Befehlshaber freigesprochen, aber Befehlsempfänger wie Demjanjuk angeklagt werden.»
Demjanjuk sei, wie viele andere von den Deutschen gefangen genommene Rotarmisten, zur Arbeit im KZ gezwungen, «zwangsrekrutiert» worden. «Das ist die historische Wahrheit.» Er sei kein Täter gewesen, sondern selbst ein Opfer. Zum ersten Mal kommt Unruhe im Zuschauerraum auf, als Busch erklärt, die kriegsgefangenen Trawniki hätten auf einer Stufe mit den jüdischen Arbeitshäftlingen in den KZs gestanden. Und der Anwalt legt noch nach: Das millionenfache Sterben der Rotarmisten in deutscher Kriegsgefangenschaft sei der «erste Holocaust» gewesen.
«Es herrscht ein moralischer und juristischer Doppelstandard in diesem Gerichtssaal», klagt Demjanjuks Anwalt. Bis vor wenigen Jahren sei es einhellige Meinung in der deutschen Rechtsprechung gewesen, Männer wie Demjanjuk, die von den Nazis zwangsrekrutiert worden waren, nicht zu verfolgen. Nun dürfe man nicht allein für Demjanjuk eine Ausnahme machen. Es bleibe ein «juristisches Faszinosum», warum man ausgerechnet den Angeklagten 7000 Kilometer über den Ozean geflogen und nach Deutschland «zwangsdeportiert» habe, während man andere Verdächtige, die seit Jahren hierzulande lebten, unbehelligt lasse. Es ist, jedenfalls in diesem Kontext, die maximale Provokation, Demjanjuks Auslieferung eine «Deportation» zu nennen – damit stellt der Verteidiger mindestens sprachlich die Auslieferung von einem Rechtsstaat in einen anderen mit der massenhaften «Deportation» von Europas Juden in die Vernichtungslager gleich. Fast vierzig Minuten dauert Buschs Vortrag, und am Ende hat der Rechtsanwalt nicht nur einen Befangenheitsantrag gegen das Gericht und die Staatsanwaltschaft gestellt, sondern gleich den gesamten Umgang der bundesdeutschen Nachkriegsjustiz mit NS-Verbrechern in Frage gestellt.
Cornelius Nestler, Strafrechtsprofessor in Köln und Anwalt mehrerer Nebenkläger, kontert Buschs Antrag kühl. Wenn die deutsche Justiz früher eine energische Verfolgung von Nazis versäumt habe, könne sie nicht befangen sein, nur weil sie heute das Richtige tue.
Auch Richter Alt reagiert demonstrativ gelassen auf die frontale Attacke des Verteidigers. Über den Befangenheitsantrag, verkündet er, werde innerhalb der gesetzlichen Fristen entschieden. Mehr steht dem Richter nicht zu, jeder weitere Kommentar würde seine Objektivität in Zweifel ziehen. Stattdessen fährt der Vorsitzende dort fort, wo er unterbrochen wurde. Er stellt die Personalien des Angeklagten fest:
«Vorname John, Geburtsname Demjanjuk, als Vornamen Iwan Nikolai.»
«Geboren am 3. April 1920 in Dubowi Macharynzi in der Ukraine.»
«Ohne Staatsangehörigkeit.»
«Verheiratet, Rentner, früherer Wohnsitz: Seven Hills, Ohio, Vereinigte Staaten von Amerika.»
Demjanjuk döst derweil vor sich hin, weit weg, so scheint es, von dem Prozess, der vermutlich die letzten Monate, vielleicht Jahre seines Lebens bestimmen wird.
Nach einer guten Stunde beginnt das Gericht mit der Verhandlung. Zunächst muss geklärt werden, ob der Angeklagte überhaupt verhandlungsfähig ist. Kann man dem Neunundachtzigjährigen im Rollstuhl die Strapazen des Prozesses zumuten? Kann er den Wortwechseln vor Gericht folgen? Wie steht es mit seiner Konzentrationsfähigkeit? Das sind keine Nebenfragen, im Gegenteil, in diesem Prozess hängt alles davon ab. Sollte ein vom Gericht beauftragter medizinischer Gutachter feststellen, dass Demjanjuk nicht verhandlungsfähig ist, wäre das Verfahren schlagartig zu Ende, ganz gleich, ob die Schuldfrage geklärt ist.
Aufgerufen wird der medizinische Sachverständige, der für das Gericht Demjanjuks Gesundheitszustand geprüft hat. Albrecht Stein ist ein kleiner Mann mit
Weitere Kostenlose Bücher