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Der Fall Demjanjuk

Der Fall Demjanjuk

Titel: Der Fall Demjanjuk Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Heinrich Wefing
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Taugt ein Strafprozess auch als Instrument der historischen Aufklärung? Als Ort der Erinnerung an die Opfer des Holocaust?
    Wohl seit den großen Frankfurter Auschwitz-Prozessen in den sechziger Jahren hat kein deutsches Verfahren diese Fragen mehr derart dringlich aufgeworfen wie die Strafsache gegen John Demjanjuk. Und selten sind diese Fragen entschiedener beantwortet worden als in München. Drei Verhandlungstage lang hat die Strafkammer die Hinterbliebenen der in Sobibor Ermordeten gehört, einen nach dem anderen, lauter Frauen und Männer zwischen siebzig und achtzig. Drei Verhandlungstage lang hat sich der achteckige Münchner Gerichtssaal in eine Gedenkstätte verwandelt, in ein Memorial, und keiner, der den Zeugen zugehört hat, wird ihre Worte, ihre Tränen, ihren Mut vergessen können. Oder das Wort «deportiert», das klingt wie ein Schrei.
    Aber, so muss man bei aller Ergriffenheit fragen: Bringt das den Prozess gegen John Demjanjuk voran? Lässt sich nun, da die Nebenkläger gesprochen haben, genauer sagen, ob Demjanjuk als ukrainischer Wachmann im Vernichtungslager Sobibor an der schier industriellen Tötung von Zehntausenden Menschen beteiligt war? Wissen wir jetzt mehr über die Taten, die ihm die Staatsanwaltschaft zur Last legt?
    Die Wahrheit ist: Nein, das wissen wir nicht. Die Angehörigen der Opfer, die als Nebenkläger im Prozess auftreten, wurden vom Gericht als Zeugen gehört. Aber sie können Demjanjuks Taten nicht bezeugen. Nur einer von ihnen, Jules Schelvis, saß selbst in einem der Viehwaggons, die nach Sobibor fuhren, alle anderen wurden nicht abtransportiert und ins Gas getrieben, irgendein glücklicher Zufall, irgendein mutiger Nachbar, ein Verwandter oder ein Dienstmädchen haben ihnen ihr Leben gerettet oder sogenannte «onderduikouders», auf Deutsch: «Untertaucheltern», die vom holländischen Widerstand geworben wurden, um fremde Kinder unter Lebensgefahr als eigene großzuziehen.
    John Demjanjuk sind die Nebenkläger noch nie begegnet, sie haben ihn zum ersten Mal hier im Münchner Gerichtssaal gesehen. Ob er in Sobibor war, wo ihre Eltern, ihre Verlobten, ihre Brüder und Schwestern, ihre Großeltern, Tanten und Cousinen ermordet wurden, das vermögen sie nicht zu sagen. Ob Demjanjuk ein Henkersknecht war, ein Gehilfe des Holocaust oder selbst ein Opfer der Nazis – die Nebenkläger haben ziemlich entschiedene Ansichten dazu, aber belegen können sie es nicht.
    Warum also werden sie trotzdem als Zeugen gehört, einer nach dem anderen, geduldig und respektvoll? Ist das nicht bloß Stimmungsmache gegen Demjanjuk? Was können die Nebenkläger zum Prozess beitragen? Ihre Vernehmung beweise das große Leid, das Nazi-Deutschland ihnen angetan habe, erklärt Demjanjuks Anwalt Ulrich Busch in der Verhandlung vom 22. Dezember 2009. Aber sie sei ungeeignet, «den Tatvorwurf zu beweisen. Keiner der Nebenkläger war Tatzeuge.»
    Was soll das bringen?, fragt Busch provozierend, aber nicht ohne Berechtigung.
    Es gibt mindestens drei Antworten auf diese Frage. Die erste ist streng juristisch. Die Nebenklage ist eine spezielle Einrichtung des deutschen Strafrechts, sie gibt den Opfern von Straftaten und deren Angehörigen das Privileg, sich selbst am Prozess zu beteiligen, eigene Anträge und Fragen zu stellen und sich so direkt mit dem Angeklagten auseinanderzusetzen. Wenn im Prozess gegen Demjanjuk also grauhaarige Menschen als Nebenkläger auftreten, dann ist das keine besondere Schikane gegen den Angeklagten; diese Menschen nehmen vielmehr ein Recht wahr, das ihnen das Gesetz gewährt.
    Aber müssen sie auch derart ausführlich gehört werden, tagelang, einer nach dem anderen? Sie werden gehört, weil Demjanjuks Verteidiger die Befragung der Nebenkläger provoziert haben. Einer der beiden Anwälte hatte sich öffentlich vernehmen lassen, man möge doch sicherstellen, dass kein Unbeteiligter sich als «Trittbrettfahrer» an den Prozess gegen seinen Mandanten dranhänge. Also gibt das Gericht allen Angehörigen der Opfer ausführlich Gelegenheit darzulegen, welche ihrer Verwandten in Sobibor ermordet wurden, um zu klären, ob sie wirklich berechtigt sind, als Nebenkläger aufzutreten. Daran besteht nun kein Zweifel mehr.
    Es gibt, zweitens, auch eine prozesstaktische Antwort. Die Nebenkläger treten auf, um dem Prozess ein Gesicht zu geben, wie es einer ihrer Anwälte in einem Hintergrundgespräch formuliert hat: «to give a face to the trial». Viele Gesichter, um genau zu sein. Oder,

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