Der Fall Demjanjuk
Sollte sich mit Hilfe des Dienstausweises – und einer Reihe anderer Indizien – der Nachweis führen lassen, dass Demjanjuk zwischen Frühjahr und Spätsommer 1943 im Lager Sobibor Wachmann in Diensten der SS war, dann, so geht die Logik der Anklage, hat er sich auch strafbar gemacht. Dann hat er Beihilfe zum Massenmord geleistet. Durch sein Mittun in dem höllischen Regime, durch sein Funktionieren im System des Vernichtungslagers. Sehr zugespitzt: durch seine bloße Anwesenheit.
Darauf also kommt es am Ende an: War Demjanjuk in Sobibor?
Es gibt, wie in fast jedem strittigen Punkt in diesem Verfahren, keine einfache Antwort darauf. Zu lange liegt der Holocaust zurück, zu viele Zeugen sind längst gestorben, zu viele Dokumente haben sich im Laufe der Jahrzehnte verloren. Und Demjanjuk selbst, der einzige Mensch, der es wissen muss, hat immer bestritten, in Sobibor gewesen zu sein. Nun schweigt er, wie es sein Recht ist vor einem deutschen Gericht.
Lässt sich nach beinahe siebzig Jahren überhaupt noch verlässlich rekonstruieren, wo ein Mensch zu einer bestimmten Zeit gewesen ist, mitten im Krieg, während ringsherum die Welt in Flammen steht? Lässt es sich so präzise rekonstruieren, dass es nicht nur der historischen Wahrheit nahekommt, sondern den Beweisregeln eines Strafprozesses genügt? Es ist ein extrem schwieriges Unterfangen. Die amerikanischen und die israelischen Ankläger sind daran gescheitert. Ihnen ist es nicht gelungen, Demjanjuks Anwesenheit im KZ Treblinka zu beweisen, obwohl sie zahlreiche Augenzeugen aufbieten konnten, lauter Opfer des Holocaust, deren Glaubwürdigkeit über alle Zweifel erhaben schien.
Die Staatsanwaltschaft München hingegen hat nicht einmal Augenzeugen, um ihre These zu stützen, Demjanjuk sei in Sobibor gewesen. Von den insgesamt nur 47 Überlebenden des Lagers sind viele längstgestorben, und die wenigen, die noch aussagen können, vermögen sich an einen Demjanjuk nicht zu erinnern.
Der Sobibor-Überlebende Thomas Blatt bei einem Interview vor dem Landgericht München am 30. November 2009.
Die ukrainischen Wachleute seien außerordentlich grausam gewesen, hat Thomas Blatt am 19. Januar 2010 vor dem Münchner Gericht erklärt, ein fragiler älterer Herr mit lebhaften Augen: «Sie haben die Menschen auf dem Weg in die Gaskammern mit Bajonetten gestoßen», und er fügte hinzu: «Diese Leute waren ein wichtiges Glied in der Kette der Judenvernichtung.»
Der 1927 in dem Dorf Izbica in der Nähe von Lublin geborene Blatt ist einer der wenigen Überlebenden von Sobibor. Er war von Ende April 1943 bis zum Aufstand im Oktober 1943 in dem Vernichtungslager, ziemlich genau in dem Zeitraum also, in dem Demjanjuk dort als Wachmann gedient haben soll. Blatts Eltern und sein Bruder wurden gleich nach der Ankunft in Sobibor vergast, er selbst wurde für ein Arbeitskommando ausgewählt; nach dem Aufstand gelang ihm die Flucht. In zwei Büchern hat er das Unvorstellbare beschrieben; seine Aufzeichnungen über den Alltag im Vernichtungslager sind eine der wichtigsten Quellen für die Erinnerung an Sobibor. Aber Demjanjuk?
«Ich kann nicht sagen, ob Demjanjuk in Sobibor war», erklärt Blatt vor dem Münchner Schwurgericht. Das alles sei zu lange her, er könnesich nicht einmal mehr an die «Gesichter von Vater und Mutter» erinnern.
Blatts Aussage ist keine Sensation. Er hatte schon am ersten Verhandlungstag gegenüber Journalisten betont, er könne Demjanjuk nicht identifizieren. Auch Philip Bialowitz, ein weiterer Überlebender von Sobibor, erklärte, an Demjanjuks Gesicht könne er sich nicht erinnern, so wenig, wie er sich an die Gesichter der meisten Wachmänner in Sobibor erinnere. «Aber», fügte er hinzu, «ich erinnere mich, dass die Wachen uns routinemäßig beobachteten, schlugen und manchmal auf uns schossen.» Und Jules Schelvis, ein dritter Überlebender von Sobibor, sagte ebenfalls, er habe Demjanjuk im Lager nicht wahrgenommen.
Es gibt, kurz gesagt, keine lebenden Zeugen mehr, die etwas über Demjanjuks Einsatz in Sobibor sagen könnten. Das ist die Basis dieses Prozesses, und es ist seine größte Schwierigkeit.
Die Anklageschrift der Münchner Staatsanwaltschaft versucht daher im Wesentlichen ohne Zeugen auszukommen. Sie konzentriert sich darauf, den Beweis, dass Demjanjuk in Sobibor war, mit Hilfe von Dokumenten und Archivmaterial zu führen. Mit Hilfe von verstreuten Unterlagen, die in Jahrzehnten der Ermittlungen auf der ganzen Welt
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