Der Fall Demjanjuk
um es noch genauer zu sagen: um dem Gesicht von John Demjanjuk etwas entgegenzusetzen.
Jeder große Prozess, über den die Medien intensiv berichten, ist auch ein Kampf um Bilder. Und es wäre potentiell verheerend, so ging die Überlegung, wenn allein Aufnahmen des bettlägerigen Angeklagten in den Zeitungen und Nachrichtensendungen auftauchen würden. Wenn sich das Bild des alten, kranken Mannes im Rollstuhl in den Köpfen des Publikums festfressen könnte. Wenn damit der Eindruck entstehen würde, das Gericht schere sich nicht um den Gesundheitszustand Demjanjuks, das ganze Verfahren sei zweifelhaft, womöglich auf fundamentale Weise unfair. Also suchten die Nebenkläger mit ihren Auftritten ein Gegenbild zu schaffen, den Fokus der Aufmerksamkeit zu verschieben, fort von Demjanjuk hin zur Erinnerung an die Opfer. Es ist ein legitimes Anliegen in Zeiten der medialisierten Strafprozesse.
Aber auch das ist letztlich nicht die entscheidende Funktion ihres Auftritts. Die Nebenkläger sprechen, nicht um die Taten, sondern um deren Folgen zu bezeugen. Sie bezeugen, wie der nationalsozialistische Völkermord auch die getroffen hat, die ihm entgangen sind. Sie bezeugen, dass die Schrecken des Holocaust nicht mit der Befreiung der Lager zu Ende waren, sondern fortgewirkt haben. Wie ein Fluch, der nicht nur eine Generation trifft.
Sie alle sind gestandene Frauen und Männer, mit bürgerlichen Karrieren, fast alle sind oder waren verheiratet, die meisten haben Kinder und Enkelkinder. Doch wenn man nur einen Moment lang mit ihnen spricht, dann erfährt man, dass auch sie gezeichnet sind. Viele haben jahrzehntelang über das Schicksal ihrer Eltern geschwiegen, haben nicht einmal ihren eigenen Kindern davon erzählt. Nicht wenige wurden depressiv, mussten sich Therapien unterziehen, einige konnten nicht mehr arbeiten. «Jeden Tag meines Lebens haben mir meine Eltern gefehlt», sagt Philip Jacobs, «ich peinige mich mit dem Gedanken, dass ich davongekommen bin. Ich habe meine Verwandten allein gelassen, ich habe meine große Liebe verloren.» Und Leon Vieyra, derjede Woche zweimal durch den Ort Westerbork hindurchmuss, um zum Jagen zu fahren, nimmt bis heute jedes Mal einen Umweg um das Dorf herum.
Anders gesagt: Die Nebenkläger zu Wort kommen zu lassen ist auch eine Entgegnung auf einen nagenden Zweifel, der den Prozess gegen John Demjanjuk von Anfang an begleitet hat. Muss das denn sein?, haben viele gefragt. Muss man den alten Mann noch vor Gericht zerren? Kann man die Geschichten von damals nicht endlich ruhen lassen? Die Antwort ist einfach: Die Geschichten sind nicht von damals. Sie sind noch immer gegenwärtig.
Der Dienstausweis
John Demjanjuks Schicksal hängt an einem Stück Papier. An einem alten, braunstichigen Blatt Papier, dessen Ränder eingerissen und ausgefranst sind. «Dienstausweis» steht darauf, außerdem Demjanjuks Name, seine Größe, ein Foto, das ihn als jungen Mann zeigen soll, allerlei Stempel, SS-Runen und Unterschriften sowie, unten links, der Vermerk, Demjanjuk sei am 27. März 1943 in das Vernichtungslager Sobibor abkommandiert worden. Dieses Blatt Papier ist das wichtigste Beweisstück der Staatsanwaltschaft München.
Gäbe es diesen «Dienstausweis» nicht oder sollte er sich als Fälschung erweisen, dann bräche die Anklage in sich zusammen. Das Papier ist das stärkste Indiz, dass der ehemalige Rotarmist sich als «Hilfswilliger» für die SS verdingt hat. Ohne diesen «Dienstausweis» wäre Demjanjuk nicht aus den Vereinigten Staaten ausgewiesen worden; ohne diesen «Dienstausweis» wäre er in Israel wohl kaum zum Tode verurteilt (und später wieder freigesprochen) worden. Und ohne dieses Papier läge Demjanjuk an diesem Mittwoch im April 2010 nicht im Schwurgerichtssaal in München auf einer Krankenliege.
Sorgsam in Klarsichtfolie verpackt, geht der Dienstausweis auf der Richterbank von Hand zu Hand. Die Richter und die Schöffen betrachten das Papier gründlich und voller Ernst, wenden es hin und her. Sie alle haben das Dokument schon ungezählte Male auf Fotos und Reproduktionen gesehen, es hat in allen Verfahren gegen Demjanjukeine entscheidende Rolle gespielt. Jetzt aber hat das US-Justizministerium seine Tresore geöffnet, und ein Bote aus Washington hat eigens das Original nach München gebracht, für genau drei Tage. Es ist einer der Schlüsselmomente dieses Prozesses. Denn das Papier soll beweisen, dass John Demjanjuk tatsächlich in Sobibor war.
Davon hängt alles ab.
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