Der Fall Demjanjuk
zusammengetragen worden sind – so wie Demjanjuks Dienstausweis. Es sind lauter kriminalistische Puzzlestücke, allesamt nicht frei von Zweifeln und jedes für sich nicht stark genug, die entscheidenden Fragen zu klären. Aber zusammengenommen, so behaupten die Ankläger, erhellen sie den blinden Fleck in Demjanjuks Biographie. Zusammengenommen sollen sie den Beweis liefern, dass Demjanjuk tatsächlich in Sobibor war.
Das erste Mosaiksteinchen stammt aus Russland. Am 2. März 1949 wird in Kiew Ignat Daniltschenko von einem sowjetischen Kriegsverbrechertribunal zu seiner Kollaboration mit den Deutschen verhört. Daniltschenko ist einer der Millionen kleinen Verlierer des großen Krieges, einer, der nur irgendwie zu überleben versucht hat und dabei zwischen die Fronten geraten ist. Gleich nach dem deutschen Überfall auf die Sowjetunion wurde er zur Roten Armee einberufen, geriet – wie Iwan Demjanjuk – im Frühjahr 1942 bei der Schlacht von Kertsch in deutsche Gefangenschaft und ließ sich im KriegsgefangenenlagerRowno von den Deutschen anwerben – vermutlich ganz einfach, um nicht zu verhungern oder an der Ruhr zu krepieren.
Vor dem Gericht in Kiew räumt Daniltschenko ein, Wachmann in Sobibor gewesen zu sein. Er beschreibt, wie er in die Routine des Massenmordes eingespannt wurde, wie er die ankommenden Juden aus den Zügen jagte, wie sie ins Lager und durch den «Schlauch» in die Gaskammern getrieben wurden. Und Daniltschenko nennt die Namen von zehn anderen Trawniki, die ihm während seiner Dienstzeit begegnet seien. Darunter ist auch ein Mann namens Iwan Demjanjuk. Mit diesem Kameraden, den er im März 1943 in Sobibor kennengelernt habe, erklärt Daniltschenko, sei er einige Monate später in das KZ Flossenbürg in der Oberpfalz abkommandiert worden, wo sie wiederum als Wachen eingesetzt worden seien.
Es ist, nach allem, was wir wissen, das erste Mal, dass der Name Demjanjuk vor einem Gericht mit dem Lager Sobibor in Verbindung gebracht wird.
Natürlich war der Prozess gegen Daniltschenko alles andere als fair und frei. Die sowjetische Justiz der ersten Nachkriegsjahre verfolgte Nazi-Kollaborateure hart und unbarmherzig, weit entfernt von allen rechtsstaatlichen Standards. Wir wissen nicht, wie sehr der Angeklagte unter Druck gesetzt wurde, ob er bedroht oder gar gefoltert wurde, wir kennen nur die Protokolle der Gerichtsverhandlung, und vieles daran klingt formelhaft und einstudiert, wie ein vorgestanztes Schuldbekenntnis. Das sowjetische Gericht verurteilt Daniltschenko zu 25 Jahren Lagerhaft in Sibirien.
1974 hat er seine Strafe abgesessen. Er heiratet eine Frau, die er in Sibirien kennengelernt hat, und gründet eine Familie. Fünf Jahre nach der Haftentlassung aber wird er noch einmal mit der Vergangenheit in Sobibor konfrontiert. In den Vereinigten Staaten sind die Männer des US-Justizministeriums bei ihren Ermittlungen gegen Demjanjuk auch auf Daniltschenkos Aussage gestoßen. Sie wollen mit ihm reden. Über Sobibor. Und vor allem über Demjanjuk. Nach einigem diplomatischen Hin und Her stimmt die sowjetische Justiz zu. Allerdings dürfen die amerikanischen Beamten nicht direkt mit Daniltschenko sprechen, das Verhör übernimmt Natalia Kolesnikova, eine sowjetische Staatsanwältin.
Der Abschlussbericht der Zentralen Stelle in Ludwigsburg zitiert aus dieser zweiten Vernehmung von Daniltschenko, die am 21. November 1979 in der westsibirischen Stadt Tyumen stattfindet. Der ehemalige Trawniki berichtet dort: «Demjanjuk nahm wie alle anderen Wachmänner im Lager an dem Massenmord an den Juden teil. […] Während meines Dienstes im Lager sah ich häufig, wie Demjanjuk, bewaffnet mit einem Gewehr, die todgeweihten Menschen in verschiedenen Zonen des Lagers bewachte. Er eskortierte sie von dem Platz, wo die Menschen aus den Zügen entladen wurden, den ganzen Weg bis zum Eingang der Gaskammer. Ich kann nicht genau die Umstände beschreiben, unter denen Demjanjuk die Menschen zur Gaskammer begleitete oder wie viele Gruppen von Gefangenen er während seines Dienstes im Lager eskortierte. […] Ich sah, wie Demjanjuk die Juden mit dem Kolben seines Gewehrs antrieb und schlug – das waren die ‹normalen› Umstände, unter denen die Menschen aus den Zügen herausgeholt wurden.»
Klarer und eindeutiger ist Demjanjuks angebliche Beteiligung am Massenmord in Sobibor nie beschrieben worden. Doch auch diese Aussage ist mit Skepsis zu betrachten. Mag Daniltschenko 1979 auch nicht mehr mit einer
Weitere Kostenlose Bücher