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Der Fall Demjanjuk

Der Fall Demjanjuk

Titel: Der Fall Demjanjuk Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Heinrich Wefing
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neuerlichen Bestrafung wegen seiner Zeit als Wachmann in Sobibor gerechnet haben, so war die Sowjetunion doch damals, unter KPdSU-Chef Leonid Breschnew, immer noch eine repressive Diktatur; die Justiz war ein Instrument der herrschenden Partei, und es wäre nicht abwegig zu fragen, ob ein Mann, der 25 Jahre Gulag in Sibirien hinter sich hat, nicht womöglich der Staatsanwaltschaft bereitwillig die erwünschte Auskunft gibt, um sich weiteren Ärger zu ersparen. Zudem liegen zwischen der beschriebenen Zeit im Lager und Daniltschenkos zweiter Vernehmung immerhin 36 Jahre; Zeit genug, um vieles zu vergessen. Hieß der «Kamerad» in Sobibor wirklich Iwan Demjanjuk? Und war es tatsächlich derselbe, der später in Israel vor Gericht stand? Kein westlicher Ermittler hat je mit Daniltschenko gesprochen. Im Dezember 1985 ist er gestorben, nach einem Leben in Lagern.
    Gäbe es nur Daniltschenkos Aussagen, so darf man vermuten, wäre Demjanjuk nie der Prozess gemacht worden.
    Aber es gibt noch mehr Puzzleteile.
    Bei ihrem Vormarsch nach Westen erreicht die Rote Armee Ende Juli 1944 den Südosten Polens. In Lublin, in der ehemaligen Dienststelle des örtlichen SS-Führers, fällt den sowjetischen Truppen stapelweise Papier in die Hände, darunter auch Akten aus dem Ausbildungslager Trawniki: Personalunterlagen, Dienstpläne, Versetzungslisten, Abordnungsbefehle für einzelne Wachmänner – ein Ausschnitt aus der Bürokratie des Holocaust. Die erbeuteten Dokumente befinden sich nach Erkenntnissen der deutschen Ermittler heute zu großen Teilen im Archiv des russischen Geheimdienstes FSB in Moskau; unmittelbaren Zugang aber hat bislang kein bundesdeutscher Staatsanwalt je erhalten.
    Die Trawniki-Papiere sind für den Prozess gegen Demjanjuk von eminenter Bedeutung. Denn neben der Aussage von Daniltschenko bieten sie die klarsten Belege dafür, dass Demjanjuk tatsächlich in Sobibor gewesen sein dürfte – wenn die Dokumente denn verlässlich sind, was die Verteidigung stets bestritten hat. Das erste Schriftstück ist eine Liste vom 26. März 1943, zwei Seiten lang, unterzeichnet von einem SS-Untersturmführer. Darin wird die Überstellung von 84 Wachmännern aus dem Ausbildungslager Trawniki an das «SS-Sonderkommando Sobibor» dokumentiert, in das Vernichtungslager also. Die Namen der Abkommandierten stehen durchnummeriert auf der Rückseite des Blattes. Nr. 30 ist Demjanjuk, Iwan, Dienstnummer 1393. Ebenfalls überstellt wird ein Daniltschenko, Ignat, Dienstnummer 1016. Höchstwahrscheinlich also just der Mann, der sechs Jahre später den sowjetischen Behörden gegenüber zum ersten Mal den Namen Demjanjuk erwähnen sollte. Ein zweites, ähnliches Papier stammt vom 1. Oktober 1943, ausgestellt vom «SS-Wirtschafts-Verwaltungshauptamt, Ausbildungslager Trawniki». Darin wird die Überstellung von insgesamt 140 Trawniki-Männern in das Konzentrationslager Flossenbürg festgehalten. Und wiederum steht ein Iwan Demjanjuk, Dienstnummer 1393, mit auf der Liste. Ebenso Ignat Daniltschenko, Dienstnummer 1016.
    Diese beiden Daten – 26. März 1943 und 1. Oktober 1943 – markieren den maximalen Zeitraum, den Demjanjuk in Sobibor verbracht haben könnte. Womöglich waren es ein paar Tage weniger, aber es bleiben ziemlich genau sechs Monate im Zentrum des Massenmordes. Es sind diese sechs Monate, um die seit Jahrzehnten gestritten wird. Es sind diese sechs Monate, die Demjanjuks Leben bestimmt haben.
    Aber auch die Versetzungsliste nach Sobibor allein wäre kein hinreichender Beweis. Dort steht nur ein Name samt Geburtstag und Geburtsort, dazu eine Dienstnummer, mehr nicht. Kein Foto, keine Unterschrift von Demjanjuk, nichts, was eine Identifikation sicher möglich machen würde.
    Zudem hat die Verteidigung die Aussagekraft der Versetzungslisten hartnäckig bestritten. In der Verhandlung vom 16. März 2010 bestürmt Demjanjuks Anwalt Ulrich Busch deshalb den Historiker Dieter Pohl mit Fragen.
    «Haben Sie die Listen im Original gesehen?»
    Nein, er habe nur Durchschläge einsehen können, antwortet Pohl.
    «Können Sie ausschließen, dass Trawniki-Männer während des Transports erkrankten?»
    «Nein. Wie sollte ich das auch ausschließen können.»
    «Können Sie ausschließen, dass Trawniki-Männer noch im Lager Trawniki erkrankten und gar nicht verschickt wurden?»
    «Nein.»
    «Können Sie etwas zum Krankenstand der Trawniki sagen?»
    Ja, es habe unter den Trawniki Fälle von Fleckfieber gegeben, erwidert

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