Der Fall Demjanjuk
Dolmetscher den Hinweis übersetzt hat. Aber er wird an diesem Tag keinen Gebrauch davon machen.
Nagorny wurde am 11. Januar 1917 in dem ukrainischen Dorf Chodosiwka unweit von Kiew geboren. 1940 wird er in die Rote Armee einberufen und gerät schon kurz danach in deutsche Gefangenschaft. Wir wurden getrieben wie Hunde, sagt Nagorny. Ein halbes Jahr sei er im Kriegsgefangenenlager Chelm gewesen, eingeteilt als Waldarbeiter.
«Dann kamen deutsche Offiziere nach Chelm, Ukrainer waren auch dabei, und wir wurden abgeholt.»
«Was wollten die Deutschen?», fragt Richter Alt.
«Sie fragten einfach, ob ich arbeiten will. Ich hatte Hunger», sagt Nagorny lapidar.
«Wohin wurden Sie gebracht?»
«Irgendwo in Polen.»
«Wie hieß der Ort?», fragt der Vorsitzende nach.
«Trawniki», antwortet Nagorny.
«Was haben Sie dort gemacht?»
«Wir haben nichts gemacht. Uns wurde ständig gesagt, links, rechts, ich habe nichts verstanden.»
«Sie mussten exerzieren?»
«Die haben einfach gesagt, nach links, nach rechts.»
«Hatten Sie ein Gewehr?»
«Uns wurde gezeigt, wie man mit Waffen umgeht. Geschossen haben wir nicht.»
«Wurden Ihnen bei der Ankunft in Trawniki Fingerabdrücke genommen?»
«Ja, oder auch nicht, ich kann mich nicht mehr genau erinnern.»
«Wurden Sie fotografiert?»
«Wir haben einen Dienstausweis bekommen, dafür wurde ein Foto gemacht.»
«Wie sah der Dienstausweis aus?»
«Das war eine kleine Karte, wie ein Pass.»
Nagorny zeigt auf Bitten des Gerichts die ungefähre Größe der Karte. Er bekommt ein Lineal gereicht, um mit den Fingern die Maße zu bestimmen. Etwa neun Zentimeter breit sei der Ausweis gewesen und vielleicht acht Zentimeter hoch.
«Mussten Sie den Ausweis unterschreiben?»
Nagorny gluckst ein kleines Lachen: «Das weiß ich nicht mehr», sagt er.
«Konnten Sie lesen und schreiben?»
«Auf einer Schule war ich nicht. Danach hat dort keiner gefragt.»
«Konnten Sie lesen?»
«Ich kann auch heute nicht lesen.» Wieder gluckst Nagorny vor sich hin.
«Hat Ihnen in Trawniki jemand vorgelesen, was Sie unterschrieben?»
«Nein. Wir haben zu essen bekommen, wir haben Übungen gemacht, Militärübungen, das war alles.»
Wenn Nagorny spricht, wird er lebhaft. Er benutzt seine Hände beim Reden, lehnt sich vor und zurück, wiegt den Kopf. Manchmal überschlägt sich seine raue, hohe Greisenstimme, mitunter muss er fürchterlich husten, gelegentlich lacht er ein kleines, selbstironisches Lachen, das wie ein Meckern klingt. Nagorny spricht Ukrainisch, auch nach über sechzig Jahren in Bayern kann er nur ein paar Brocken Deutsch.
Er berichtet, wie er von Trawniki nach Rostock transportiert wurde, um eine Flugzeugfabrik zu bewachen, gemeinsam mit SS-Einheiten. Tausende Zwangsarbeiter habe es dort gegeben, viele von denen seien gestorben, weil sie nichts zu essen bekamen.
«Wir Wachmänner haben gekochte Schildkröten bekommen, ich konnte das nicht essen», sagt Nagorny.
«Schildkröten?», fragt der Vorsitzende nach. «Sie meinen Zeug aus dem Meer?»
«Kann sein», antwortet Nagorny, «ich habe nie gefischt.»
Nach einem Jahr in Rostock sei er zurück nach Trawniki geschickt worden und dann weiter in das KZ Flossenbürg in der Oberpfalz, wo er wieder als Wachmann gedient habe, in einer schwarz-grünen Uniform, die er noch in Trawniki bekommen habe. Was es in Flossenbürg zu bewachen gab, weiß Nagorny nicht mehr, eine Fabrik vielleicht, eine Munitionsfabrik.
«Oder ein Steinbruch?», fragt der Richter.
«Weiß ich nicht, könnte sein», sagt Nagorny.
Das KZ Flossenbürg war im Mai 1938 vornehmlich zur Unterbringung von «Asozialen» und «Kriminellen» eingerichtet worden, wurde dann aber kontinuierlich erweitert; bis 1945 sind dort an die 100.000 Häftlinge festgehalten worden, von denen rund 30.000 an der grausam harten Arbeit in den Steinbrüchen starben.
Nagornys Auskünfte sind vage, lückenhaft, vieles fällt ihm erst auf Nachfrage ein, und einmal sagt er auf die Frage, ob er sich noch genauer an etwas erinnere:
«Ich erinnere mich nicht einmal mehr, was ich heute Morgen zum Frühstück getrunken habe.»
Sie hätten französische oder italienische Karabiner bekommen und gelegentlich eine Stunde Ausgang, erzählt Nagorny. In der Nähe habe es eine Wirtschaft gegeben, aber das Bier war schlecht, wie Wasser, wer wollte das trinken? Auch andere Wachmänner aus Trawniki habe es in Flossenbürg gegeben, Russen, Ukrainer, Litauer, Volksdeutsche.
Nun kommt der
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