Der Fall Demjanjuk
Umstand, der irritierend ist, beinahe kurios: Mindestens vier Mal hat John Demjanjuk nach dem Krieg ganz offiziell, ohne Not, ohne jeden äußeren Druck, selbst angegeben, er sei in Sobibor gewesen. Nicht in dem Lager Sobibor, das nicht, aber in einem winzigen polnischen Flecken gleichen Namens.
Als er im März 1948 einen Antrag auf Unterstützung als «Displaced Person» bei der International Refugee Organisation stellte, gab er zu Protokoll, er sei von April bis Januar 1943 als Kraftfahrer bei einer polnischen Autofirma beschäftigt gewesen, für vierzig Zloty im Monat. Und als Sitz dieser «auto firma» nannte er nicht irgendeinen Ort, sondern eben: Sobibor.
Gut zwei Jahre später bemühte sich Demjanjuk gemeinsam mit seiner Ehefrau um eine Auswanderung in die Vereinigten Staaten und musste daher vor einer US-Kommission Angaben zu seinem Lebenslauf machen. Am 22. Oktober 1950 stellte diese Kommission fest, Demjanjuk sei von 1936 bis zum September 1943 selbständiger Landwirt gewesen, und zwar in – Sobibor, Polen.
Im November 1951 musste sich Demjanjuk erstmals nach den deutschen Meldegesetzen in der Gemeinde registrieren lassen, in der er lebte.Die entsprechenden Unterlagen haben sich im Archiv des Städtchens Feldafing bei München erhalten. Unter Vorkriegsaufenthalt ist dort notiert: «Sobobor» (mit «o»), Polen, seit dem 1. Januar 1939.
Und vier Wochen später, am 27. Dezember 1951, stellte Demjanjuk im US-Generalkonsulat in Stuttgart den lang ersehnten Antrag auf ein Einreisevisum in die Vereinigten Staaten. Als Nationalität gab er dort «Polnisch» an und als Aufenthaltsort für die Zeit vom 1934 bis 1943 wiederum: Sobibor.
Diese beharrliche Nennung ausgerechnet des winzigen Ortes Sobibor gehört zu den rätselhaftesten Indizien des Prozesses.
Manche der Äußerungen lassen sich plausibel erklären, wenn man sich Demjanjuks Situation in den ersten Nachkriegsjahren vor Augen hält. Für ihn gab es nur zwei Ziele. Er wollte so schnell wie möglich fort aus Deutschland, über den Atlantik, nach Kanada oder in die Vereinigten Staaten. Und er wollte um jeden Preis verhindern, dass er zurückgeschickt würde, zurück nach Osten, in die Ukraine, zurück in die Sowjetunion. Tatsächlich hätte ihn dort Übles erwartet, weil er sich auf eine Kollaboration mit dem Feind eingelassen hatte. Überläufern hatte Stalin schon im August 1941 den Tod angedroht, ebenso Deserteuren und allen, die sich den Hitler’schen Armeen ergaben. Dies war allen Rotarmisten durch Verlesen des Befehls Nr. 270 vom 16. August 1941 bekannt gegeben worden. Und wirklich wurden zahllose Rotarmisten, die aus der Gefangenschaft oder der Kollaboration mit den Deutschen zurückkehrten, nach dem Krieg in der Sowjetunion verfolgt und hart bestraft, teils mit langjährigen Haftstrafen, teils mit dem Tod.
Einen Ort in Polen anzugeben und sich selbst eine fiktive polnische Nationalität zuzulegen, mag sich Demjanjuk gedacht haben, reduzierte vielleicht die Gefahr, in die Sowjetunion abgeschoben zu werden. Das erklärte er jedenfalls bei seiner ersten Vernehmung vor einem US-Gericht im April 1978: Er habe seine Repatriierung in die Ukraine verhindern wollen, als er als Staatsangehörigkeit «Polnisch» genannt habe. Und als frühere Tätigkeit «Landarbeiter» anzugeben erhöhte womöglich die Chance, nach Amerika zu kommen. Denn Kraftfahrer gab es dort reichlich, «farm worker» aber waren knapp. Tatsächlich hatte der amerikanische «Displaced Persons Act» vom 25. Juni 1948 dreißig Prozent aller zu vergebenden Einreisevisa für Landarbeiter reserviert – undprompt veränderte Demjanjuk seine frühere Aussage, er sei Kraftfahrer bei einer Autofirma in Sobibor gewesen, und gab spätestens seit 1950 an, er sei dort Landwirt gewesen.
Aber warum nannte er ausgerechnet Sobibor, oder «Sobobor», wie in den Meldeunterlagen der Gemeinde Feldafing? Als Demjanjuk 1978 vor einem amerikanischen Gericht gefragt wurde, weshalb er «Sobibor» in den Einreisepapieren notiert habe, antwortete er, das sei nicht seine Idee gewesen. Ihm sei halt kein Ort in Polen eingefallen. Da habe ihm der US-Konsularbeamte in Stuttgart das Dorf Sobibor vorgeschlagen. Einfach so, aus heiterem Himmel.
Lässt sich eine lahmere Erklärung denken?
Spricht nicht weit mehr dafür, dass Thomas Walther Recht hatte, der vor Gericht in München sagte, er vermute, Demjanjuk habe Sobibor genannt, weil dieser Ort in Polen sein Leben geprägt habe. Weil er Wachmann in
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