Der Fall Demjanjuk
Demjanjuk vermeintlich als Iwan denSchrecklichen identifiziert hatten. Irgendein perfekt gefälschtes Dokument, das Demjanjuks Anwesenheit in Treblinka belegt hätte, wäre zu diesem Zeitpunkt zusammen mit den erschütternden Aussagen der Holocaust-Überlebenden das sichere Todesurteil für Demjanjuk gewesen. Und wäre es für die Verschwörer nicht viel verlockender gewesen, einen Ukrainer als den grausamen Betreiber der Gaskammern von Treblinka zu «überführen» denn als bloßen Wachmann in Sobibor?
Aber ebendas ist nie geschehen. In all den Jahren der Prozesse gegen Demjanjuk in Israel und in den Vereinigten Staaten ist niemals ein Schriftstück aus den sowjetischen Archiven aufgetaucht, das auf Treblinka hingewiesen hätte. Selbst Yoram Sheftel, Demjanjuks israelischer Verteidiger, sonst nie einer waghalsigen Verdächtigung abgeneigt, hat diesen Umstand ausdrücklich gewürdigt. Ausnahmslos deuteten die Hinweise auf Sobibor, so sehr sogar, dass der Widerspruch zwischen den Zeugenaussagen und den Dokumenten beinahe zum Abbruch der Ermittlungen gegen Demjanjuk geführt hätte.
Nein, sonderlich plausibel ist es nicht, alle Fragen und Zweifel, die es im Fall Demjanjuk ja durchaus gibt, mit einem großen Moskauer Komplott gegen den Mann aus Seven Hills, Ohio, zu erklären. Und doch ist der Umstand, dass sowohl Daniltschenkos Aussage als auch die Überstellungslisten und vor allem der Dienstausweis allesamt aus sowjetischen Archiven stammen, unbefriedigend. Es ist, gerade weil es keine Zeugen und kein Geständnis gibt, ein gewichtiger Einwand gegen die Überzeugungskraft der Indizienkette. Selbst wenn man nicht zu Verschwörungstheorien neigt – es würde der Anklage fraglos nützen, wenn es wenigstens einen Beweis gäbe, ein Indiz, irgendeine Spur, die unabhängig von den Moskauer Quellen wäre.
Und es gibt diese Spur.
Es gibt einen einzigen Zeugen von damals. Einen klapprigen alten Mann mit schwachem Gedächtnis. Auch er kann nicht sagen, ob Demjanjuk in Sobibor war. Und doch sind seine Erinnerungen von eminenter Bedeutung.
Der letzte Zeuge
Am 24. Februar 2010, kurz nach zehn Uhr morgens, betritt Alex Nagorny den Zeugenstand. Draußen, vor dem Justizgebäude an der Nymphenburger Straße, liegt kein Schnee mehr. Zum ersten Mal seit Wochen hängt eine Ahnung von Frühling in der Luft, sechs, sieben Grad ist es warm, man kommt endlich wieder ohne Handschuhe aus.
Nagorny ist ein schmaler, gebrechlicher Mann, weit über neunzig Jahre alt. Schwer stützt er sich auf seinen gewaltigen Gehstock, als er an diesem Morgen in den Gerichtssaal kommt. Er trägt einen kleinen braunen Hut, wie ihn nur noch sehr alte Männer tragen, und eine hellbraune Windjacke.
Nagorny ist eine Schlüsselfigur in diesem Prozess, der sonst ganz auf historischen Rekonstruktionen beruht, auf Akten und ein paar stockfleckigen Dokumenten. Nagorny ist einer der wenigen Trawniki, die noch am Leben sind. Was die Historiker nur aus den Archiven nachvollziehen können, hat er tatsächlich erlebt. Er kann berichten, wie er angeworben und ausgebildet wurde, was die «Hilfswilligen» zu tun hatten, wie er sich im Krieg durchgeschlagen hat. Er ist eine letzte Verbindung in die Vergangenheit.
Vor allem aber ist der alte Mann der einzige Zeuge, der sich an den jungen Demjanjuk erinnern kann. Die beiden waren Kameraden, im Krieg und auch danach. «Kamerad Demjanjuk», sagt Nagorny noch heute, oder einfach nur «Iwan». Die beiden haben zusammen gewohnt,sie haben zusammen gesoffen, sie haben mal ein krummes Ding gedreht, sie haben zusammen Wache geschoben. Aber nicht in Sobibor. Das nicht, darauf legt Nagorny Wert.
Er mag ein schlichter Mann sein, er hat sich sein Leben lang als Hilfsarbeiter auf dem Bau durchgeschlagen. Aber er hat offenbar genau begriffen, dass seine Aussage riskant ist. Vorsorglich hat er deshalb einen eigenen Anwalt mitgebracht. Denn was er zu berichten hat, ist heikel. Nicht nur für den Prozess insgesamt. Sondern auch für ihn selbst. Sagt er etwas Falsches oder sagt er zu viel, irgendetwas, das ihn in Verdacht bringt, in Sobibor gewesen zu sein oder in Belzec oder in Treblinka, dann läuft er Gefahr, ebenfalls auf der Anklagebank zu landen, so wie Demjanjuk. Deshalb belehrt Richter Ralph Alt den Zeugen eindringlich. Nagorny habe das Recht, betont der Vorsitzende, die Antwort zu verweigern, wenn er fürchten müsse, dass eine wahre Antwort strafrechtliche Konsequenzen für ihn haben könnte. Nagorny nickt, nachdem ihm der
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