Der Fall Demjanjuk
wieder, nach seiner Verhaftung.»
«Und bei dem Prozess vor zwanzig Jahren?»
«Ja, das habe ich im Fernsehen gesehen, da wurde mir bewusst, dass es dieser Mann war.»
«Wie kamen Sie zu dieser Schlussfolgerung?»
«Im Fernsehen wurde sein Name genannt und was er gemacht hat. Ob er Juden getötet hat, habe ich nicht gewusst.»
Schließlich, es ist längst Nachmittag, soll Nagorny schauen, ob er Demjanjuk wiedererkennt. Ist das der Mann, mit dem zusammen er in Flossenbürg war und später in Landshut?
Mühsam schlurft Nagorny zu dem Bett neben der Richterbank, auf dem Demjanjuk liegt, unbeteiligt wie immer. Nichts deutet darauf hin, dass der Angeklagte den Worten des Zeugen viel Aufmerksamkeit schenkt, nichts lässt erkennen, ob er sich an Nagorny erinnert. Immerhin spricht der Zeuge Ukrainisch, die Sprache, die auch Demjanjuk sein Leben lang gesprochen hat, wo immer es ging. Aber auch das scheint heute an ihm vorbeizugehen.
Nagorny tritt ganz nah an das Krankenbett heran, klammert sich an seinen Stock. Richter Alt fordert Demjanjuk auf, seine dunkle Sonnenbrille abzunehmen, die er sogar im Gerichtssaal trägt. Die Dolmetscherinübersetzt die Bitte, Demjanjuk tut, wie ihm geheißen, wenn auch mit sichtlichem Widerwillen. Wer sich an den Prozess in Jerusalem erinnert, fühlt sich auf irritierende Weise zurückversetzt in jenen Moment im Februar 1987, als der KZ-Überlebende Eliahu Rosenberg verlangte, Demjanjuk möge seine große Brille abnehmen. Rosenberg betrachtete den Angeklagten eindringlich und rief dann aus, dies sei Iwan der Schreckliche, kein Zweifel, er erkenne ihn wieder, diese «mörderischen Augen». Es war einer aufwühlendsten Momente des Verfahrens in Israel – und einer der fatalsten.
In München geschieht nichts auch nur annähernd so Dramatisches. Ein paar Sekunden lang schaut Nagorny dem alten Mann im Bett ins Gesicht. Dann sagt er: «Er hat keine Ähnlichkeit mit Iwan.»
Wäre Nagorny geladen worden, um Demjanjuk zu identifizieren, dann wäre diese Aussage eine Katastrophe für die Anklage. Doch dafür ist Nagorny nicht nach München gekommen. Viel wichtiger ist seine Aussage zu Flossenbürg. Mag der Zeuge seinen alten Kumpel Iwan auf der Krankenliege im Gerichtssaal auch nicht wiedererkannt haben – seine Erinnerungen an den gemeinsamen Dienst im KZ schaden dem einstigen Waffenbruder. Denn sie kratzen an Demjanjuks Alibi. Sie widersprechen seiner Behauptung, von Graz direkt nach Heuberg abkommandiert worden zu sein. Und vor allem bestätigt Nagorny, was Demjanjuk stets bestritten hat: dass er Wachmann war im Dienste der SS.
Nagornys Aussage ist deshalb gewichtig, weil sie nicht allein steht. Im Bundesarchiv in Berlin existieren Unterlagen, die Demjanjuks Anwesenheit im KZ Flossenbürg bestätigen. Es gibt einen Eintrag in einem Waffenbuch, vom 1. April 1944, in dem die Übergabe einer Waffe an Demjanjuk, Iwan, vermerkt ist. Und es hat sich ein Dienstplan über die Verwendung von SS-Männern in Flossenbürg erhalten, datiert vom 4. Oktober 1944, in dem Demjanjuk für die Bunkerbewachung eingeteilt wird, mit einem falsch geschriebenen Namen allerdings, «Demenjuk», aber versehen mit der Dienstnummer 1393 und dem Hinweis «mit Gewehr».
Beweisen nun die Erinnerungen des alten, vergesslichen Zeugen Nagorny, dass Demjanjuk in Sobibor war? Nicht zwingend. Aber zusammenmit den Dokumenten aus russischen Beständen und den Unterlagen aus Flossenbürg ergibt Nagornys Aussage ein schlüssiges Geflecht von Indizien, die unabhängig voneinander auf einen bestimmten Ablauf der Ereignisse hindeuten, auf einen Ablauf, der in sich logisch ist: Irgendwann nach seiner Gefangennahme im Frühsommer 1942 wurde Demjanjuk von den Deutschen als Wachmann für Trawniki rekrutiert, das belegen der Dienstausweis und die diversen Überstellungslisten. Von Trawniki wurde er nach Sobibor kommandiert, wofür gleichermaßen der Dienstausweis, die Überstellungsliste und die Aussage von Daniltschenko sprechen. Anschließend wurde Demjanjuk nach Flossenbürg gebracht, wie sich aus der zweiten Überstellungsliste und den Angaben von Nagorny ergibt, die sich insofern wiederum mit den Dokumenten aus dem KZ Flossenbürg decken. Durchgängig taucht dabei in allen Schriftstücken die Dienstnummer 1393 in Zusammenhang mit dem Namen Demjanjuk auf.
Das ist, alles in allem, kein perfekter Beweis, aber es ist eine überzeugende Indizienkette. Überzeugender allemal als Demjanjuks Alibi.
Und es kommt noch etwas hinzu. Ein
Weitere Kostenlose Bücher