Der Fall Demjanjuk
Vorsitzende zu den entscheidenden Fragen.
«Kannten Sie Iwan Demjanjuk?»
«Ja», sagt Nagorny, «aus Landshut.»
«Da haben Sie zusammen gewohnt?»
«Ja, Iwan wohnte bei mir in der Wohnung.»
Die beiden teilten sich mit ein paar anderen Ukrainern eine Unterkunft in der Stethaimer Straße, Thomas Walther hat die Adresse beiseiner Spürarbeit recherchiert, mit Hilfe von Google Earth und alten Melderegistern.
Häftlinge bei der Arbeit im Steinbruch des KZ Flossenbürg, um 1942.
«Kannten Sie Iwan auch schon früher?», fragt der Vorsitzende weiter.
«Ja.»
«Und woher?»
«Aus Flossenbürg. Als wir da hingebracht wurden, war Iwan schon da.»
«Was tat er dort?»
«Er war Wachmann, er machte dasselbe wie ich.»
«Kannten Sie Iwan schon vor Flossenbürg?»
«Nein, vorher habe ich ihn nicht gekannt.»
Es ist das erste Mal in dreißig Jahren Prozessgeschichte, dass ein ehemaliger Trawniki vor einem westlichen Gericht erklärt, er könne sich an Demjanjuk erinnern. Nagorny ist der erste Zeuge, der behauptet, Demjanjuk sei ein Trawniki gewesen. Er ist der Erste, der ihn in Flossenbürg gesehen haben will. Für die Verteidigung ist das ein Schlag. Denn mit Nagornys Aussage ist Demjanjuks Alibi in Frage gestellt. Demjanjukhatte stets behauptet, er sei aus dem Kriegsgefangenenlager in Chelm direkt nach Graz transportiert worden und von dort aus auf den Truppenübungsplatz Heuberg auf der Schwäbischen Alb. Von Flossenbürg war nie die Rede. Im Gegenteil, immer wieder hat Demjanjuk bei Verhören in Israel und den USA behauptet, niemals in Flossenbürg gewesen zu sein.
Nach dem Einsatz in Flossenbürg seien Iwan und er nach Heuberg gebracht worden, erzählt Nagorny. Dort wurde die antisowjetische «Wlassow»-Armee aufgestellt, eine Einheit aus russischen Freiwilligen und anderen Nationalitäten, die an der Seite der Deutschen gegen die Rote Armee kämpfen sollte. Aber er habe nicht gekämpft, dafür sei es zu spät gewesen, sagt Nagorny, er habe nur die Kasernen von Heuberg bewacht, und später seien sie abmarschiert, um schließlich bei Landshut von den Amerikanern gefangen genommen zu werden. Für Nagorny ist der Krieg damit zu Ende. Für Demjanjuk auch.
In Heuberg endet auch die Unklarheit über Demjanjuks Biographie. In Heuberg finden die beiden Erzählstränge wieder zusammen, der des Angeklagten und der seiner Ankläger. Spätestens von der Zeit in Heuberg an ist unumstritten, was mit Demjanjuk weiter geschieht.
Nach der Kapitulation der Wehrmacht meldet er sich bei der amerikanischen Militärverwaltung in Landshut als Flüchtling, als «Displaced Person», und lässt sich ein paar Jahre lang durch Bayern treiben, menschliches Strandgut des Krieges, entwurzelt, heimatlos, hungrig. Er schlägt sich mit Gelegenheitsjobs durch, als Lastwagenfahrer der US Army, als Hilfsarbeiter am Bau, versucht irgendwie den Kopf über Wasser zu halten, gemeinsam mit seinen ukrainischen Kameraden, will nur nicht den Sowjets in die Hände fallen. Und er will fort, nach Kanada, nach Amerika, bloß fort aus dem zerstörten, mörderischen Europa.
Es ist nicht leicht, sich vorzustellen, wie es war, als junger Ukrainer in Bayern zu leben, in den ersten Monaten und Jahren nach der deutschen Niederlage. Inmitten eines Gewirrs von Stimmen, Sprachen und heimatlosen Völkerscharen. Wie würden die Deutschen sie behandeln und, das vor allem, wie die Amerikaner? Wo sollten diese Zwanzigjährigen hin, Leute wie Nagorny oder Demjanjuk, in einem fremden Land, ohne Ausbildung, geplagt von furchtbaren Erinnerungen an den Krieg? Was blieb ihnen zum Leben? Daheim, in der Sowjetunion,drohte ihnen Anklage und Hinrichtung, ihre bisherigen Zwingherren, die Deutschen, waren besiegt, sie fanden sich auf der falschen Seite wieder, bei den Verlierern. Würden sie zu den Russen zurückgeschickt werden? Würden sie bei den Amerikanern Unterschlupf finden? Könnten sie sich, wie schon einmal, auf die Seite der Sieger schlagen, um ihre Haut zu retten?
«Warum sind Sie in Landshut geblieben?», fragt Richter Alt den Zeugen Nagorny.
Der antwortet mit seinem gackernden kleinen Lachen: «Nach Russland konnten wir nicht zurück, Stalin hätte uns sofort aufgehängt.»
«Und nach Amerika?»
«Die haben mich nicht genommen. Iwan schon. Der hat sich eine Frau genommen und ist nach Amerika.»
Nagorny hingegen bleibt in Landshut, sein Leben lang.
«Haben Sie später noch einmal etwas von Demjanjuk gehört?», fragt der Vorsitzende.
«Nein, nichts, erst jetzt
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