Der Fall Demjanjuk
Bauch gefaltet, die Züge teilnahmslos. An den schlechteren Tagen steht Demjanjuk für einen Moment auf, mit allen Zeichen der Anstrengung, und lässt sich dann mühsam auf das Krankenbett sacken, das für ihn bereitsteht. Ein Sanitäter kniet sich vor ihn hin, schnürt ihm die Schuhe auf, zieht sie ihm aus, dann kommt ein zweiter Helfer hinzu, und gemeinsam heben und drehen sie den Angeklagten auf das Bett, breiten eine Decke über ihm aus. Die Dolmetscherin, Oksana Gerlach, setzt sich zu ihm, einer der Wachtmeister legt ihm kurz die Hand auf die Schulter, vielleicht zur Begrüßung, vielleicht zur Beruhigung, schwer zu sagen.
Einige Momente später betreten die Richter den Saal, der Vorsitzende eröffnet die Verhandlung, und bald schon schaut niemandmehr auf den Angeklagten. Er döst vor sich hin, ein alter Mann fern der Heimat, in einem fremden Land, unter einem furchtbaren Verdacht. Manchmal fuchtelt er mit den Händen, manchmal schnauft er vernehmlich auf seiner Krankenliege, gelegentlich murmelt er etwas vor sich hin. Ein Gebet sei das, sagt die Übersetzerin. Die meiste Zeit aber verdämmert er seinen Prozess.
Wer ist dieser Mann? So lange man ihn auch betrachtet, in seinem Rollstuhl oder auf der Krankenliege, man vermag es nicht zu erkennen. Ein «Phantom» hat ihn einer der Prozessbeobachter einmal genannt, der Jurist und Schriftsteller Lukas Hammerstein. Und tatsächlich, das ist er: ein Phantom, ein anwesender Abwesender. Kaum mehr als ein Körper, der hin- und hergeschoben wird, eingehüllt in Decken. Ein Pflegefall. Und ein großer Schweiger.
Zwei Mal hat sein Anwalt Ulrich Busch in Demjanjuks Namen «persönliche Erklärungen» verlesen, pathetisch formulierte Texte, deren Tonfall und Argumente ganz danach klangen, als habe Busch sie diktiert, nicht Demjanjuk. Bitter beklagt sich der Angeklagte darin über die Behandlung durch die deutsche Justiz – und bestreitet alle Vorwürfe.
Nur ein einziges Mal, am 12. Januar 2010, sechs Wochen nach Prozessbeginn, hat Demjanjuk selbst den Mund aufgemacht. Nicht im Gerichtssaal, sondern davor. Mehrere Kamerateams haben die Szene festgehalten. Ein junger Justizangestellter schiebt den Rollstuhl des Angeklagten durch die langen Flure des Justizzentrums an der Nymphenburger Straße, mehrere Beamte und Sanitäter sind um ihn herum. Es ist ein guter Tag für Demjanjuk, so scheint es. Er sitzt aufrecht, fingert an den Knöpfen seines Parkas herum. Er wirkt wach, schaut sich munter um, vielleicht zum ersten Mal grinst er. In die Kameras. Es sieht spöttisch aus, beinahe angriffslustig. Und dann sagt er zu den Journalisten, die ihn anstarren: «I’m not Hitler. So what’s the matter with you?»
Sein Englisch ist hart, ein schwerer Akzent liegt darauf. «Ich bin nicht Hitler. Also, was wollt Ihr?» Das sind seine ersten Worte in der Öffentlichkeit, seit er in Deutschland gelandet ist. Das ist sein Kommentar zu dem letzten Prozess seines Lebens. «I’m not Hitler», Demjanjuk lacht ein wenig über seinen Scherz, dann schweigt er wieder. Und legt sich im Gerichtssaal in sein Krankenbett, wie an den meisten Tagen.
«I’m not Hitler» – vermutlich ist das nur eine rasch hingeworfene Bemerkung. Aber wenn man sie ernst nimmt für einen Moment, dann ist sie doch von erstaunlichem Witz, jedenfalls für einen Mann von Demjanjuks intellektuellen Fähigkeiten. Sie bringt die zentrale Argumentation der Verteidigung auf den Punkt: Demjanjuk war, wenn überhaupt, nur ein Unterling, der Unterste in der Befehlskette. Demjanjuks Scherz sagt: Was kümmert ihr euch um mich? Ich habe den Holocaust nicht angezettelt, das wart ihr Deutschen selbst.
Vielleicht war es eine naive Hoffnung der Nebenkläger und vieler Prozessbeobachter zu glauben, Demjanjuk werde in München sein Schweigen brechen. Warum auch sollte ein Mann, der seit über dreißig Jahren in verschiedenen Ländern vor Gericht steht und stets alle Vorwürfe von sich gewiesen hat, nun plötzlich zu reden beginnen?
Nach allem, was wir wissen, hat Demjanjuk niemals von der Zeit in Sobibor erzählt. Kein Wort gegenüber seinen Kindern, wie diese beteuern. Kein Wort im Suff, nach Trinkgelagen mit seinen ukrainischen Freunden und Nachbarn in Cleveland. Nicht einmal, als das israelische Bezirksgericht ihn wegen Treblinka zum Tode verurteilt hatte, begann er zu reden. Dabei hätte ihm damals ein Geständnis, er sei ein kleiner Wachmann in Sobibor gewesen, wohl das Leben gerettet. Aber Demjanjuk stritt alle Vorwürfe ab,
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