Der Fall Demjanjuk
Sobibor gewesen sei.
Doch wiederum andererseits: Demjanjuk mag ein intellektuell beschränkter Mann sein. Aber er war schlau genug, seine Angaben von Mal zu Mal zu variieren, je nachdem, was gerade die besten Aussichten auf eine Ausreise versprach. Warum sollte ein solcher Mann wieder und wieder ausgerechnet den Namen eines Vernichtungslagers angeben, eines höllischen Ortes, an dem er in den Massenmord an den Juden verstrickt war? Weil er darauf vertraute, dass der Holocaust unentdeckt bliebe? Weil er hoffte, die deutschen Mörder hätten alle Spuren verwischt? Weil er sich keiner Schuld bewusst war?
Nein, die merkwürdigen Hinweise auf Sobibor in Demjanjuks Selbstauskünften aus der Nachkriegszeit sind ein letzter, sehr eigentümlicher und ganz gewiss nicht von den Russen gefälschter Beleg für Demjanjuks Verbindung nach Sobibor. Gäbe es sonst nichts, keinen Dienstausweis, keine Versetzungslisten, keine Aussage von Nagorny, dann wäre die beharrliche Erwähnung des Fleckens Sobibor nichts weiter als ein rätselhaftes Kuriosum. Isoliert betrachtet, sagt es nichts. Es wäre schwer zu erklären, es wäre vielleicht sogar verdächtig, aber kein Beweis. Es ist auch kein Beweis. Aber wenn man alle Teile des kriminalistischen Puzzles nebeneinander legt, dann passt auch Demjanjuks vierfache Angabe, er sei in Sobibor gewesen, ins Bild. Dann ist es ein weiteres Steinchen,das zusammen mit den übrigen sehr darauf deutet, dass tatsächlich stimmt, was die Anklage Demjanjuk vorwirft: dass er Wachmann in Diensten der SS im Vernichtungslager Sobibor war.
Die Vorleser
Der 22. Februar 2011 ist ein sonniger, kühler Morgen in München. Zum ersten Mal seit langer Zeit ist der Saal A 101 im Strafjustizzentrum wieder gut gefüllt, Nebenkläger und Neugierige sind gekommen, Journalisten und Fotografen, sogar zwei Fernsehteams. Auch Thomas Walther sitzt im Publikum, der Mann, der die Ermittlungen gegen John Demjanjuk in Gang gesetzt hat und mittlerweile als Anwalt arbeitet. Ein Kreis könnte sich heute schließen. Das ist die Erwartung.
Monatelang hatte die Verhandlung gegen Demjanjuk vor weithin leeren Zuhörerbänken stattgefunden. Der Prozess, der so spektakulär begonnen hatte, war aus dem Bewusstsein der Öffentlichkeit verschwunden. Ungezählte Verhandlungstage vergingen mit der Verlesung von Dokumente, Tausende Seiten lang: Akten, Vernehmungsprotokolle, Gerichtsentscheidungen. Mal las der Vorsitzende Richter Alt ein Papier vor, die deutsche Übersetzung einer Aussage eines ehemaligen Trawniki zum Beispiel, der kurz nach dem Krieg vom sowjetischen Geheimdienst verhört worden war. Dann legte ein Justizbeamter das Dokument, das sich im Original irgendwo in einem russischen Archiv erhalten hatte, auf einen Overheadprojektor: Notizen von Hand in kyrillischer Schrift, viele Buchstaben unleserlich, die Ränder eingerissen. So ging es Seite um Seite, bis das Licht wieder angeschaltet wurde und einer der Beisitzer das nächste Dokument vorzulesen begann, wieder ein Verhörprotokoll, irgendein Aktenstück oder ein Urteil aus einemder schier endlosen Prozesse gegen John Demjanjuk. Rechtsfindung durch Vorlesen. Spektakuläre neue Erkenntnisse tauchten dabei nicht auf. Viel deutet noch immer darauf hin, dass Demjanjuk als Wachmann in Sobibor war, aber der letzte, schlagende, alle Zweifel überwindende Beweis bleibt aus.
Selbst die ausdauerndsten Zuhörer müssen gelegentlich gähnen. Der Saal leert sich zusehends. Nur noch ein paar unermüdliche Journalisten, Historiker und Rentner harren aus. Im Sommer zieht das Gericht sogar ein paar Mal in einen kleineren Raum um, weil der große Saal A 101 für den Prozess gegen die Mörder von Dominik Brunner gebraucht wird.
Und Demjanjuk? Schweigt zu alledem. Wer gehofft hatte, der Angeklagte werde irgendwann zu reden beginnen, sieht sich getäuscht. Demjanjuk lässt den Prozess stumm über sich ergehen, als habe er mit der ganzen Sache nichts zu tun. Woche für Woche, immer dienstags, mittwochs und donnerstags, wird er einige Minuten vor oder nach zehn Uhr in einem Rollstuhl in den Saal geschoben. Ein paar Mal ist er krank, hat Fieber, muss sich erbrechen, klagt über Schmerzen, oder seine Blutwerte stimmen nicht, dann fällt die Verhandlung aus. Einmal, am 26. August 2010, ordnet das Gericht die zwangsweise Vorführung des Angeklagten an, obwohl Demjanjuk erklärt hat, er fühle sich nicht gesund.
An den besseren Tagen bleibt der Angeklagte in seinem Rollstuhl sitzen, die Hände vor dem
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