Der Fall Demjanjuk
aufgetaucht, warum sollte sich nicht noch kurz vor Schluss ein vergilbter Papierstapel finden, der alles auf den Kopf stellt? Sehr wahrscheinlich aber ist das nicht. Es könnte durchaus sein, dass Akte 1627 nur eine Behauptung ist. Eine letzte, aberwitzige Hoffnung.
Und so steigert Ulrich Busch die Dosis. Kaum haben sich alle Beteiligten gesetzt, kündigt der Verteidiger an, er werde eine weitere persönliche Erklärung Demjanjuks verlesen. Der Angeklagte habe ihn darum gebeten. Die Journalisten im Saal greifen zum Stift.
«Dritte Erklärung von John Demjanjuk in Deutschland.»
Es ist ein wütender, maßloser Text. Dreimal in seinem Leben sei er zum Opfer geworden, schreibt Demjanjuk:
«Als ich ein Kind war, verurteilte mich Stalin zum Tod durch Verhungern.»
«Als ich ein ukrainisch-sowjetischer Kriegsgefangener war», hätten die Deutschen versucht, ihn «durch Hunger und Sklavenarbeit» zu töten.
In den achtziger Jahren hätten die USA und Israel ihn «in betrügerischer Absicht» angeklagt. «Korrupte Richter», die «nicht nach Gerechtigkeitsuchten», hätten ihn zum Tode verurteilt. Fünf Jahre habe er unschuldig in einer Todeszelle gesessen, 1800 Tage lang «Todesangst» gelitten.
John Demjanjuk am 22. Februar 2011 mit seinem, auf eine ihn angeblich entlastende KGB-Akte verweisenden Pappschild.
«Jetzt, am Ende meines Lebens, versucht Deutschland, meine Würde, meine Seele, meinen Geist und mein Leben in einem politischen Schauprozess auszulöschen.»
Busch liest die Erklärung nüchtern vor, so wuchtig, so grotesk die Vorwürfe auch sein mögen. Er, Demjanjuk, ein «ukrainischer Bauer», sei ausgewählt worden, für deutsche Verbrechen schuldig gesprochen zu werden. Das Gericht unterdrücke Entlastungsbeweise, verfälsche die Geschichte, konspiriere mit Strafverfolgern in den USA und in Israel und lasse «gewissenlos» jedes Argument der Verteidigung an sich abprallen. All das seien «Waffen der Folter».
«Ich habe die Brutalität von Stalin überlebt. Ich habe die Brutalität der Nazis überlebt. Ich habe auch die Fehlurteile in Israel überlebt. Ich habe Kannibalismus und Hunger überlebt.»
Der Saal schweigt, das Gericht lauscht den Vorwürfen ohne äußere Regung.
«Das jetzige Verfahren», liest Busch vor, «ist die Exekution der früheren Todesurteile. Mir bleibt nur ein Weg, der Welt die Verhöhnung der Gerechtigkeit zu zeigen. Wenn das Gericht auch weiter alle Beweisanträge meines Verteidigers ablehnt, werde ich innerhalb von zwei Wochen mit einem Hungerstreik beginnen.»
Es muss keine leere Drohung sein. Schon einmal, 1982, ist Demjanjuk in einen Hungerstreik getreten, um gegen seine Inhaftierung während des Ausbürgerungsverfahrens zu protestieren. Mit Erfolg.
Busch übergibt das Papier, verfasst in ukrainischer und englischer Sprache, an das Gericht. Es ist von Demjanjuk unterschrieben, Datum 22. Februar 2011.
Der Vorsitzende spricht den Angeklagten direkt an:
«Haben Sie das verstanden?»
Demjanjuk, der sonst nie reagiert, nickt mit dem Kopf, sagt sogar etwas auf Ukrainisch: Ja.
«Und ist das Ihre Erklärung?»
«Ja.»
Der Vorsitzende nimmt das Papier kommentarlos zu den Akten.
Aber noch ist Busch nicht fertig. Wer geglaubt hatte, an diesem Tag werde womöglich der Staatsanwalt sein Plädoyer beginnen können, sieht sich getäuscht. Er habe einen Beweisantrag zu stellen, erklärt Demjanjuks Verteidiger. Er verlangt, dass Demjanjuks israelischer Anwalt Yoram Sheftel, die israelische Staatsanwältin Daphna Bainvol sowie die Richter des israelischen Supreme Court, die seinerzeit das Berufungsverfahren gegen Demjanjuk geleitet hatten, als Zeugen geladen werden. Er verlangt zudem, dass die Akten des Obersten Gerichtshofes in Jerusalem in Sachen Demjanjuk beigezogen werden. All das solle beweisen, so der Anwalt, dass sein Mandant seinerzeit in Israel nicht nur wegen Treblinka, sondern auch wegen Sobibor angeklagt – und wegen überwiegender Zweifel aus der Haft entlassen – worden sei. Sollte das so sein, so der Gedanke, dann könne Demjanjuk aus prinzipiellen Gründen nicht noch einmal in der Bundesrepublik vor Gericht gestellt werden.
Busch liest seinen Beweisantrag von einem maschinengeschriebenen Papier ab. Als er fertig ist, legt er den Bogen beiseite und nimmtden nächsten. Wieder ein Beweisantrag. Diesmal zur Frage, ob Trawniki-Männer aus dem Lager Sobibor desertieren konnten. Dann noch einer, zum Problem des Befehlsnotstands. So geht es stundenlang. Busch stellt
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