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Der Fall Demjanjuk

Der Fall Demjanjuk

Titel: Der Fall Demjanjuk Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Heinrich Wefing
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selbst als der Galgen drohte.
    Man kann dieses beharrliche Schweigen als Zeichen für Demjanjuks Unschuld deuten. Was soll einer beichten, der nichts zu beichten hat? Aber denkbar ist auch eine andere Erklärung. Denkbar ist durchaus, dass Demjanjuk die Grauen von Sobibor tief in seinem Inneren weggesperrt hat, so tief, dass er es selbst fast vergessen hat. Denkbar ist, dass er sich nach fast siebzig Jahren derart häuslich in seiner Version der Geschichte eingerichtet hat, dass er sie selbst für die Wahrheit hält. Dass er fest davon überzeugt ist, nichts Unrechtes getan zu haben. Nichts jedenfalls, dass nicht von dem unbändigen Willen gerechtfertigt gewesen wäre, mit dem Leben davonzukommen. Ja, es ist gut möglich, dass John Demjanjuk mittlerweile fest daran glaubt, er sei ohne Schuld. Was sollte ihn da bewegen, jetzt doch noch alles zu beichten?
    Und wenn er sich trotz allem dazu entschiede zu reden – müsste er dafür nicht mehr bezahlen, als ihm ein Geständnis vor Gericht überhaupt einbringen könnte? Würde Demjanjuk jetzt gestehen, würde erdas amerikanische Idyll zerstören, das er sich mit seiner Frau aufgebaut und das er so zäh über all die Jahre verteidigt hat. Würde er jetzt gestehen, wären alle Opfer, die seine Familie, seine Freunde, seine Geldgeber gebracht haben, umsonst gewesen. Sein Sohn ebenso wie sein Schwiegersohn haben ihr Leben seiner Verteidigung gewidmet – weil sie an seine Unschuld glaubten. Ein Geständnis jetzt würde all das zunichtemachen, würde das Engagement, die Liebe, den Glauben seiner Angehörigen entwerten, würde ihr Mit-Leiden verhöhnen. Warum also jetzt sprechen, wo er immer geschwiegen hat?
    Und während Demjanjuk schweigt, wie es sein gutes Recht ist vor einem deutschen Gericht, wird es Sommer, wird es Herbst, Winter und wieder Frühling. Deutschland scheitert im WM-Halbfinale in Südafrika, der Bundespräsident tritt zurück, die Republik streitet über die Thesen von Thilo Sarrazin und einen neuen Bahnhof in Stuttgart, in Arabien stürzen die Diktatoren. Und in München werden Urkunden verlesen.
    Nun aber sind alle Zeugen gehört, fast alle Dokumente eingeführt. Das Gericht hat mitgeteilt, die Beweisaufnahme könne schon bald abgeschlossen werden, die Rede ist sogar davon, das Urteil werde Mitte März fallen. Und für diesen Dienstag im Februar 2011, fünfzehn Monate nach Beginn der Hauptverhandlung, ist das Plädoyer des Staatsanwalts angekündigt. Die Aussicht füllt den Zuschauerraum von Neuem. Spannung mischt sich mit Erleichterung, Neugier mit Erschöpfung. Mit versteinerter Miene tritt Demjanjuks Anwalt Ulrich Busch an seinen Platz links von der Richterbank. Man könnte seinen Gesichtsausdruck für ein Zeichen von Niedergeschlagenheit halten. Aber das wäre ein Irrtum. Busch ist ein hartnäckiger Mann. Und er hat einen Plan. Einen schier verzweifelten Plan.
    Etwa zwanzig Minuten nach zehn wird der Angeklagte in einem Rollstuhl hereingeschoben. Er trägt, wie fast immer, einen grünen Parka, seine blaue Basecap und eine Sonnenbrille. Aber etwas ist anders an diesem Vormittag. Auf dem Schoß hält Demjanjuk ein braunes Pappschild, auf das jemand von Hand eine Zahl geschrieben hat: «1627». Es ist eine stumme Demonstration. Ein wortloser Aufschrei. «1627» – das ist die Registriernummer einer Akte aus den Beständen desKGB. Schon mehrfach hat Busch das Gericht aufgefordert, diese Akte aus russischen Archiven zu beschaffen. Vierzehnhundert Seiten soll sie stark sein, und sie soll, glaubt man den vagen Andeutungen des Verteidigers, ein Komplott des sowjetischen Geheimdienstes enthüllen. Auf einen Schlag, ein für alle Mal, das ist die Suggestion, würde diese Akte die Unschuld des John Demjanjuk beweisen. Eine Wunderakte.
    Ob es diese Akte wirklich gibt, was sie genau enthält – niemand weiß das. Nach Buschs Darstellung soll aus den Papieren hervorgehen, dass Demjanjuk nie in Sobibor oder Treblinka gewesen sei. Die «Mutter aller Akten», wie der Anwalt sie pathetisch nennt, belege, dass Demjanjuks SS-Dienstausweis gefälscht sei, dass einstige Zeugen in der Sowjetunion zu Falschaussagen erpresst worden seien. Ausgeschlossen ist es nicht, dass diese sensationelle Akte existiert. Wer wollte überhaupt noch etwas ausschließen, nach all den erstaunlichen Wendungen und fantastischen Überraschungen, die es in dem Verfahren gegen Demjanjuk in dreißig Jahren gegeben hat? So vieles ist in diesem Prozess schon aus irgendwelchen sowjetischen Archiven

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