Der Fall Demjanjuk
einen Beweisantrag nach dem anderen. Inhaltlich gehen sie wild durcheinander. Mal will der Verteidiger bewiesen wissen, dass der ehemalige Wachmann Ignat Daniltschenko erst in Treblinka gewesen sei, bevor er nach Sobibor versetzt wurde; mal verlangt er eine Beweiserhebung über die Frage, dass «Amtsträger eines NS-Amtes» nicht unter SS-Befehl gestellt werden konnten. Dann geht es um den Dienstausweis mit der Nummer 1393, der eine «KGB-Fälschung» sei, ein andermal geht es um den Schichtwechsel der Trawniki in Sobibor.
Nach dem fünfundsiebzigsten Antrag unterbricht der Vorsitzende den Vortrag des Anwalts und fragt, wie viele weitere Beweisanträge er noch zu stellen beabsichtige. Das sei schwer zu sagen, antwortet Busch, er habe viele vorbereitet, werde aber nicht alle stellen, er müsse während des Vortrags auswählen. Wie viel Zeit er noch brauche, insistiert Richter Alt. Noch mindestens drei Verhandlungstage, erklärt Busch.
Ein Raunen geht durch den Saal.
Staatsanwalt Lutz meldet sich zu Wort und verweist auf den Paragraphen 257 a der Strafprozessordnung: «Das Gericht kann den Verfahrensbeteiligten aufgeben, Anträge und Anregungen zu Verfahrensfragen schriftlich zu stellen.» Cornelius Nestler, der Anwalt einer ganzen Reihe von Nebenklägern, erklärt, entweder habe Busch den Überblick verloren – oder er wolle den Prozess verschleppen. Seinen Anträgen fehle jede Konkretion, manche seien juristischer Unsinn, der Zeuge Karl Frenzel, der ehemalige Lagerkommandeur von Sobibor, etwa, dessen Vernehmung Busch beantragt hatte, sei längst tot. Buschs Ziel sei es ersichtlich, «das Gericht ins Kämmerchen zu schicken» und das Verfahren zu verzögern.
Und tatsächlich: Wozu kann diese plötzliche Antragsflut dienen, wenn nicht zur Verzögerung einer Entscheidung? Aber warum? Die Absicht dahinter ist ein Rätsel. Schadet Busch nicht den Interessen seines Mandanten? Schließlich läuft die Zeit nicht für Demjanjuk, sondern gegen ihn. Mit jedem neuen Antrag mutet der Anwalt seinem greisen Mandanten eine noch längere Verhandlung zu. Und das, obwohl Busch immer wieder erklärt hat, jeder weitere Verhandlungstagsei für den kranken Demjanjuk eine Qual. Warum verlängert er diese Qual?
Oder sollte Busch eine andere Absicht verfolgen? Will er um jeden Preis ein Urteil verhindern, in der Hoffnung, je länger sich der Prozess hinziehe, desto wahrscheinlicher werde es, dass sein Mandant verhandlungsunfähig wird? Während der Mittagspause gibt es draußen vor den Türen des Gerichtssaals noch andere Spekulationen: Busch wolle mit seinen zahllosen Beweisanträgen das große, überwölbende Thema des Prozesses, die mörderische Logik des Vernichtungslagers, in tausenderlei technische und juristische Details zerlegen, bis sich die individuelle Schuld seines Mandanten in lauter technische Fragen aufzulösen beginne.
Buschs Kopf glüht, während er Cornelius Nestlers Erklärung zuhört. Er weist jede Verschleppungsabsicht von sich. Während des gesamten Prozesses habe das Gericht immer wieder auf die Möglichkeit hingewiesen, noch Beweisanträge zu stellen. Ihm dies jetzt zu verweigern sei «objektiv perfide», es sei «das Letzte vom Letzten, was ich je in einem deutschen Gericht erlebt habe».
Alt versucht auch diesen Ausfall zu ignorieren. Kühl erklärt er, eine «Verschleppungsabsicht» sei «in Erwägung zu ziehen», aber einstweilen dürfe Busch noch weiter Anträge stellen. Und er macht von der Möglichkeit reichlich Gebrauch. Bis zum Ende der Beweisaufnahme stellt er fast fünfhundert Beweisanträge – aber fast alle bleiben ohne Erfolg. Am 17. März nimmt sich der Vorsitzende Richter Ralph Alt mehr als achtzig Minuten Zeit, um einen dreizehn Seiten langen Beschluss zu verlesen, in dem praktisch alle Beweisanträge als unzulässig zurückgewiesen werden. Viele Beweise seien bereits erhoben worden, stellt Alt fest, vielfach sei kein konkretes Beweismittel genannt worden, zu vielen der von Busch angesprochenen Komplexe hätten Sachverständige ausführlich Stellung genommen.
Demjanjuks Verteidiger Ulrich Busch erklärt nach Alts Beschluss, er sei nicht überrascht, er habe mit einer solchen Entscheidung gerechnet. Aber bitter schiebt er nach: «Die vollständige Ablehnung der Beweisanträge zeigt die völlige Chancenlosigkeit der Verteidigung in diesem Verfahren.»
Über einen Hungerstreik Demjanjuks wird nichts bekannt
Der Anwalt
Die Kanzlei von Ulrich Busch liegt am Stadtrand von Ratingen, in einem
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