Der Fall Demjanjuk
beinahe, als habe es den Trawniki freigestanden, jeden Morgen selbstbestimmt darüber zu entscheiden, ob sie gehen oder bleiben wollten: «In kriegerischen Zeiten gibt es nicht die Alternative, keinen Gefahren ausgesetzt zu sein», sagte Nestler: «Praktisch jeder junge Mann in Europa im Jahr 1943 konnte und musste Soldat sein, mit hoher Gefahr für das eigene Leben. Ist es in dieser historischen Situation zumutbar, das Risiko einzugehen, sich den Partisanen anzuschließen, bis die Rote Armee kommt oder sich nach Hause durchzuschlagen?» Die Antwort liegt für den Organisator der Nebenklage auf der Hand.
Demjanjuks Verteidiger Busch hat «Professor Nestler» deshalb in seinem eigenen Schlussplädoyer der akademischen Realitätsausblendung geziehen, dessen Position als «nicht mehr ernst zu nehmen» bezeichnet und bitter hinterhergeschickt: «Die Verteidigung ruft Professor Nestler zu: nicht weitermachen, Gerichtssaal verlassen, aus Mandat fliehen!»
Doch der Kölner Strafrechtslehrer geht in seiner Argumentation sogar noch einen Schritt weiter. Er erklärt die Flucht zur Lappalie. Wenn er nur gewollt hätte, so der Anwalt, hätte Demjanjuk «sich dem Massenmord entziehen» können, «was – wie wir mittlerweile durch dieBeweisaufnahme erfahren haben – ein Leichtes gewesen wäre, und was viele der Trawniki ja auch gemacht haben.» Wirklich, war die Flucht ein Leichtes? Hat das die Beweisaufnahme tatsächlich ergeben?
Nein, sagt die Verteidigung, Demjanjuk habe tun müssen, was ihm gesagt wurde. Die Trawniki seien zu «blindem Gehorsam» gezwungen worden, die SS habe sie «brutal unterdrückt», die Menschenwürde sei aus ihnen «herausgeprügelt» worden. In seiner Neigung zu drastischen Bildern nennt Demjanjuks Verteidiger Ulrich Busch die Trawniki in seinem Schlussplädoyer «die Diensthundestaffel der deutschen Massenmörder». Hätte der Angeklagte sich widersetzen, gar desertieren wollen, hätte er sein eigenes Leben aufs Spiel gesetzt.
Die Klassiker nannten eine solche Konstellation «tragisch». Die Strafrechtler sprechen von «Notstand»: Wer sich in einer derart verzweifelten Situation befindet, dass er etwas Unrechtes tun muss, um sein eigenes Leben zu retten, der handelt ohne Schuld. Nur: befand sich John Iwan Demjanjuk in einer solchen Zwangslage, damals, im Sommer 1943?
Intuitiv würde man wohl sagen: Demjanjuk mag an furchtbaren Verbrechen beteiligt gewesen sein, aber er war auch selbst Opfer, ein halb verhungerter Rotarmist «im finalen Stadium der Verzweiflung», wie sein Anwalt immer wieder behauptet hat. Ein Mann, der sich auf die Kollaboration mit den Deutschen einließ, um nicht zu verrecken. Einer der Sachverständigen hat vor Gericht ausgesagt, es sei sehr unwahrscheinlich, dass ein sowjetischer Kriegsgefangener das Lager in Chelm länger als ein paar Monate überlebt hätte. Wer wollte Demjanjuk da vorwerfen, dass er sich gleichsam nach Trawniki rettete?
Der amerikanische Journalist Scott Raab hat diese Haltung in einem langen Artikel für das US-Magazin «Esquire» formuliert. Er fragte sich – und seine Leser: was hätten wir getan? «Hätten wir Essen, Unterkunft, Kleidung angenommen und den Nazis gedient, oder hätten wir uns entschieden zu sterben?» Und Raab, selbst Jude, antwortet: «Ich persönlich finde das keine übermäßig schwierige Frage. Aber ich habe auch nie daran gezweifelt, dass ich … alles getan hätte, um mein Leben zu retten. Und obwohl es eine hübsche Vorstellung ist, mir auszumalen, dass ich eher aufrecht gestorben wäre, als auf den Knienzu sterben, spricht wenig dafür, dass ich mich wirklich so heroisch verhalten hätte, und ich danke Gott, dass er mir eine solche Prüfung erspart hat.»
Tatsächlich ist die Versuchung groß, Demjanjuk die höllischen Umstände in den deutschen Kriegsgefangenenlagern gleichsam zugutezuhalten, so wie es Scott Raab in seinem suggestiven Gedankenexperiment tut. Der Hunger in Chelm, das massenhafte Sterben dort, die Seuchen, die Kälte, so der Gedanke, seien Gründe genug gewesen, dass Demjanjuk sich in den Dienst der SS gestellt habe.
Aber das ist, streng genommen, nicht das Problem. Niemand wird ihm oder den anderen Trawniki vorwerfen, dass sie in ihrer hoffnungslosen Lage beschlossen, für die SS zu arbeiten. Die Sowjets mögen darin seinerzeit Hochverrat und Fahnenflucht gesehen haben, aber kein deutsches Gericht würde allein deshalb heute einen ehemaligen Trawniki verurteilen. Auch Demjanjuk ist nicht angeklagt, ein
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