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Der Fall Demjanjuk

Der Fall Demjanjuk

Titel: Der Fall Demjanjuk Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Heinrich Wefing
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der Prozess gegen John Demjanjuk kurz vor dem Ende. Mitte März 2011 hat das Gericht die Beweisaufnahme abgeschlossen, kurz darauf hat Staatsanwalt Hans-Joachim Lutz sein Plädoyer gehalten und sechs Jahre Haft für den Angeklagten gefordert, wegen Beihilfe zum Mord in weit mehr als zwanzigtausend Fällen. Nun sind die Anwälte der Nebenkläger mit ihren Schlussvorträgen an der Reihe, und wer ihnen zuhört, muss den Eindruck gewinnen, der Prozess habe in allen Fragen Klarheit geschaffen.
    Das letzte Wort für die Nebenkläger hat der Kölner Strafrechtsprofessor Cornelius Nestler. Er ist der Organisator der Nebenklage und ihr intellektueller Kopf. Am 14. April 2011, am späten Vormittag, tritt der Jurist an ein Stehpult im großen Saal des Münchner Justizpalasts, in dem das Gericht ausnahmsweise verhandelt, weil sein angestammter Saal in der Nymphenburger Straße belegt ist. Nestler ist ein hochgewachsener Mann mit glatten grauen, stellenweise schon weißen Haaren. Er hat ein Gesicht, das man fast jungenhaft nennen könnte, das Alter jedenfalls hat darin noch kaum Spuren hinterlassen. Seine Stimme ist weich und rund, er spricht langsam und präzise, ein Mann, der sich der Überzeugungskraft seiner Argumente gewiss ist. Er besitzt die souveräne Ausstrahlung eines idealen großen Bruders, der stets weiß, was zu tun ist.
    Sehr aufrecht steht Nestler am Pult. Seine Rede ist klar und eindringlich, immer wieder macht er Pausen, damit die Dolmetscherin seinen Vortrag auch für Demjanjuk übersetzen kann. Er beginnt mit einem ausdrücklichen, fast überschwänglichen Dank an das Gericht und «die gesamte Justizverwaltung des Landgerichts», die den Nebenklägern ihre «nicht einfache Situation mit großer Umsicht, Fürsorge und Freundlichkeit erleichtert hat. Die Nebenkläger waren und sinddavon nachhaltig beeindruckt. … Dieses Strafverfahren war für sie eine prägende, geradezu überwältigende Erfahrung, welchen Respekt die deutsche Justiz den jüdischen Opfern der Naziherrschaft entgegenbringt. Die Nebenkläger sind ihnen dankbar!»

    Der Organisator der Nebenklage, Cornelius Nestler, im Münchner Gerichtssaal, Juni 2010.
    Im Hauptberuf lehrt Nestler Strafrecht an der Universität Köln. Zu seinem Mandat im Fall Demjanjuk ist er eher zufällig gekommen. Lange vor Prozessbeginn, um die Jahreswende 2008/2009, hatte ihn ein niederländischer Jurist gefragt, ob er einen Anwalt kenne, der die niederländischen Nebenkläger vor Gericht vertreten könne. Das kann ich auch selbst machen, antwortete er, und nahm dabei an, es gehe nur um zwei, drei Mandanten. Bald jedoch meldeten sich mehr und mehr. Nestler bekam immer neue Vollmachten. «Irgendwann bekam das eine gewaltige Dimension, zu viel für mich allein», erinnert sich der Jurist. Er habe daraufhin mehrere befreundete Anwälte angesprochen, die sich an der Nebenklage beteiligt haben. Aber Nestler ist fraglos so etwas wie der informelle Sprecher geblieben, jedenfalls der geistige Stichwortgeber.
    Das zeigt sich auch in der Anlage seines Plädoyers. Dass Demjanjuk schuldig sei, dass er verurteilt werden müsse, darauf verwendet Nestler nur wenige, wuchtige Sätze: «Der Angeklagte hat sie gesehen, die Menschen aus den Niederlanden, die zu dem von der SS vorgegaukeltenArbeitseinsatz im Osten aus den Zügen von Westerbork gestiegen sind, Gesichter voller Hoffnung, Kinder in Erwartung des Neuen, die Angst in den Augen der Skeptischen … Der Angeklagte hat sie gesehen, die nackten, hilflosen Menschen im Schlauch zur Gaskammer, zur Eile angetrieben unter dem Diktat der reibungslosen Vernichtungsmaschinerie, und er hat wie alle anderen im Lager die verzweifelten Schreie aus der Gaskammer gehört – und er hat zu all dem seinen Tatbeitrag geleistet.» In der Sache sei daher «das Ergebnis eindeutig: Verurteilung».
    Im Zentrum von Nestlers Vortrag aber steht eine andere Frage, die nach der Legitimität des Verfahrens selbst: «In diesem Strafverfahren muss es über den Schuldspruch hinaus auch gelingen zu begründen, dass das Verfahren selbst legitim war.» Das ist Nestlers wichtigstes Anliegen – es ist eine implizite Erwiderung auf all die Einwände, die immer wieder gegen den Prozess erhoben wurden: dass er zu spät komme, dass Demjanjuk ein Unterling war, selbst eher Opfer als Täter, dass viel zu viele Deutsche mit niedrigen Strafen davongekommen seien, dass deutsche Schuld in diesem Verfahren auf einen greisen, kranken Ukrainer abgewälzt werden solle.
    Weit holt

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