Der Fall Demjanjuk
Zweifel. Sogar ein einfach gestrickter Kolchosbauer wie Demjanjuk konnte das Verbrecherische dieses massenhaften Mordens erkennen. Aber hatte er eine Wahl? Konnte er sich tatsächlich zwischen Recht und Unrecht entscheiden?
Das ist die große Frage nach der Schuld.
Schuld, das ist für Juristen keine unbestimmte, metaphysische Kategorie. Sie prüfen, ob einem Angeklagten sein Tun auch vorgeworfen werden kann. Häufig lässt sich das leicht entscheiden. Wer etwas Verbotenes tut, der lädt in aller Regel auch Schuld auf sich. Die Strafrechtler sagen dann, die rechtswidrige Tat «indiziere» den Schuldvorwurf. Aber das gilt nicht immer. Hinter dem Schuldprinzip steht der Gedanke der Willensfreiheit. Wer einen freien Willen hat, kann sich zwischen Recht und Unrecht entscheiden. Das heißt aber umgekehrt auch: wer sich nicht frei zwischen Recht und Unrecht entscheiden kann – sei es, weil er dazu intellektuell nicht in der Lage ist, sei es, weil er selbst zu einer bestimmten Handlung gezwungen wird –, dem kann man sein Handeln nicht vorwerfen.
Heruntergebrochen auf die Situation in Sobibor lautet die Frage also: Hatte Demjanjuk irgendeine Chance, sich der entsetzlichen Routinedes alltäglichen Mordens zu entziehen – er, ein ukrainischer Traktorist im besetzten Polen, 23 Jahre alt, fern der Heimat, mitten im Krieg, allein unter Feinden? Konnte er, ein kleiner Wachmann, eingespannt für das größte Verbrechen des 20. Jahrhunderts, dem industriellen Töten irgendetwas entgegensetzen, und sei es am Ende nur das Wörtchen Nein? Oder hätte jeder Widerstand, jede Flucht für ihn, der ganz unten stand in der Kommandostruktur des Lagers, unweigerlich schwerste Konsequenzen gehabt?
Für die Ankläger ist das kein großes Problem. Sie sind mit geradezu auffälliger Beiläufigkeit darüber hinweggegangen. Sie sagen, Demjanjuk sei frei gewesen, mitzumachen oder zu fliehen. Sie behaupten, er hätte desertieren können. Sie argumentieren, die Grenze zur Ukraine sei nur vier, fünf Kilometer vom Lager entfernt gewesen, jenseits des Flusses Bug. Und überall in der Umgebung sei Ukrainisch gesprochen worden. Hätte Demjanjuk tatsächlich die Flucht versucht, so die Behauptung, wäre er in dieser Umgebung gar nicht groß aufgefallen.
Indem er blieb und weiter beim Morden half, habe Demjanjuk sich schuldig gemacht.
Einer der Nebenklägervertreter, Rechtsanwalt Rolf Kleidermann aus Memmingen, hat den Gedanken in seinem Schlussplädoyer formuliert: «Ich verkenne nicht die damalige Situation des Angeklagten. Als sowjetischem Kriegsgefangenen droht ihm in den von der Wehrmacht geführten Kriegsgefangenenlagern der sehr wahrscheinliche Tod, wie Millionen seiner Schicksalsgenossen, die die verbrecherische Wehrmachtsführung hat bewusst verhungern lassen. Sich aber diesem Schicksal zu entziehen, durch Mitwirkung an Massenmorden von Männern, Frauen und Kindern, ist nicht entschuldbar, verdient auch kein Verständnis, keine Nachsicht, es ist allenfalls eines von vielen Motiven, das Menschen zu Mördern hat werden lassen.»
Es ist das letzte Glied in der Argumentationskette der Anklage. Jeder, der im Vernichtungslager als Wachmann eingesetzt war, hat auch beim Töten geholfen, jeder. Und jeder, der beim Töten geholfen hat und nicht geflohen ist, ist auch schuldig.
Oder anders gesagt: Wer als Trawniki nach Sobibor kam, musste sich verweigern oder fliehen, um nicht schuldig zu werden. Demjanjukhätte seine Uniform ausziehen, seinen Karabiner wegwerfen und sich in die Wälder schlagen sollen. Demjanjuk, das ist in letzter Konsequenz die Logik der Anklage, hätte desertieren
müssen.
Aber kann man das von einem jungen Mann mitten im Krieg wirklich verlangen? Von einem schlichten Bauernsohn, der zwei Mal in seinem Leben beinahe verhungert wäre?
Ja, hat Staatsanwalt Hans-Joachim Lutz in seinem Schlussplädoyer gesagt. Je schwerwiegender ein Verbrechen, umso größere Anstrengungen seien zumutbar, um eine Beteiligung zu vermeiden. Demjanjuk hätte sich dem Morden «trotz eines gewissen Risikos» durch Flucht entziehen können, jedoch seien keine derartigen Bemühungen erkennbar gewesen. Aber gab es wirklich nur ein «gewisses Risiko»?
Noch entschiedener, geradezu provozierend forsch geht Cornelius Nestler über das Problem hinweg. Was habe man von Demjanjuk erwarten können, fragte der Nebenklägeranwalt in seinem Schlussvortrag: «Die Antwort ist einfach: Nicht mitmachen, Sobibor verlassen, fliehen.» In dieser Zuspitzung klingt es
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