Der Fall Demjanjuk
Nestler aus, um diese Vorwürfe zu entkräften, über lange Strecken gleicht sein Vortrag einem rechtshistorischen Kolleg, aber in der Summe ist es viel mehr als das: es gerät zu einer scharfen, teils polemischen Abrechnung mit der bundesdeutschen Nachkriegsjustiz. Nestler spricht vom «juristischen Blindflug» der Zentralen Stelle in Ludwigsburg, an deren Haltung es vor allem gelegen habe, dass John Demjanjuk und andere Nazi-Schergen nicht schon viel früher in Deutschland vor Gericht gestellt worden seien. Er nennt die Geschichte der Verfolgung von NS-Verbrechern in der Bundesrepublik eine «Geschichte von Unterlassungen und Fehlern», und kritisiert die Haltung der bundesdeutschen Gerichte, sich in eindeutiger Entlastungsabsicht ganz auf sogenannte Exzesstaten konzentriert zu haben. Dabei sei schon sehr früh festgestellt worden, etwa im Sobibor-Urteil des Landgerichts Hagen aus dem Jahr 1966, dass jede «funktionelle Mitwirkung» beim Vernichtungsprozess in Sobibor als Beihilfe zum Mord gewertet werden müsse. Diesen Gedanken habe Ludwigsburg stets ignoriert. Erst der «Querdenker» Thomas Walther habe das lang Ausgeblendete endlichauf den Fall Demjanjuk angewendet. Daher sei dieser Prozess auch kein «juristisches Novum», wie häufig behauptet werde, sondern lediglich die konsequente Durchsetzung des geltenden Rechts.
Am Ende verzichtet Nestler auf einen Strafantrag. Zu unterschiedlich seien die Vorstellungen seiner Mandanten darüber, wie John Demjanjuk bestraft werden solle. Der Professor aus Köln schließt mit den Worten: «Das Gericht wird eine Strafe finden, die einerseits der Situation des Angeklagten und die andererseits seiner Tat angemessen sein wird. Ich vertraue darauf, dass das Gericht die Strafe ausführlich erklären wird.»
Als Nestler geendet hat, kommt Beifall auf. Die Nebenkläger klatschen, ihre Angehörigen und Anwälte erheben sich, manche Zuhörer fallen in den Beifall mit ein. Dabei ist Beifall vor Gericht eigentlich unzulässig. Aber der Vorsitzende Richter Ralph Alt schweigt. Er hält den Kopf geneigt, schaut konzentriert auf ein Papier, das vor ihm liegt. Erst als der Applaus zu Ende ist, blickt er in den Saal und erklärt mit sanfter Stimme: «Beifall im Gerichtssaal sieht man als Gericht ungern.» Es ist die mildeste Rüge, die sich denken lässt. Dass dieses Gericht Sympathie für die Nebenkläger hat, steht außer Frage.
Es ist fast vierzehn Uhr, beinahe zwei Stunden hat Nestler gesprochen. Richter Alt ordnet eine kurze Pause an. Die Nebenkläger eilen auf den Professor zu, der noch immer am Pult steht, gratulieren ihm, schütteln ihm die Hände, drücken ihm Küsse auf die Wange. Es ist ein hochemotionaler Moment, manche der alten Herrschaften weinen, aber in den meisten Gesichtern steht so etwas wie Erleichterung, vielleicht gar Erlösung. Nestlers Plädoyer hat das technische und juristische Klein-Klein der vergangenen Monate zum ersten Mal in einen großen Bogen gespannt. Was das Gericht fast neunzig Verhandlungstage lang beschäftigt hat, bekommt in diesem Vortrag eine Form, etwas Konsistentes. Und in seiner Mischung aus Pathos und Schärfe gelingt es Nestler immer wieder, an die historische Bedeutung dessen zu erinnern, was hier verhandelt wird. Wenigstens einige Augenblicke lang hat der Prozess die Größe, auch die intellektuelle Höhe, die man sich häufiger gewünscht hätte.
Und doch: Auch nach Nestlers Plädoyer sind längst nicht alle Zweifel zerstreut. Immer noch gilt, was die «Süddeutsche Zeitung» amTag des Schlussvortrags der Staatsanwaltschaft über eine vorläufige Bilanz des Prozesses geschrieben hat: «Viele Vermutungen, wenig Fakten.»
Die schwierigste Frage, die umstrittenste, und am Ende wohl die wichtigste Frage dieses Prozesses, ist die nach Demjanjuks Schuld. Kaum eine andere Frage führt so tief in die Strudel des Zweifels wie diese.
Selbst wer annimmt, dass der Angeklagte in Sobibor war und sich dort am Töten beteiligt hat, wofür eine Menge spricht, der muss doch fragen, ob Demjanjuk das, was er dort getan hat, auch vorzuwerfen ist. Hat er sich bewusst gegen das Recht entschieden? Hat er sich schuldig gemacht?
Dass er zwischen Gut und Böse unterscheiden konnte, dass selbst ein schlichter Mann mit rudimentärer Bildung erkennen konnte, dass es ein grauenhaftes Unrecht ist, Zehntausende Zivilisten ins Gas zu hetzen; Männer, Frauen, Kinder, Alte; ohne Not, nur ihrer Religion und Abstammung wegen – daran gibt es keinen vernünftigen
Weitere Kostenlose Bücher