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Der Fall des Lemming

Der Fall des Lemming

Titel: Der Fall des Lemming Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Stefan Slupetzky
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zweiten Teil der plantasie du kropil zu ersparen.
    «Musikbranche? Ehrlich gesagt, nein. Herr Kropil, ich bin … wegen Ihnen hier.»
    «W-wegen mir? D-das ehrt mich b-besonders!»
    «Ja, ja, natürlich … aber vielleicht verstehen Sie nicht ganz. Haben Sie noch keinen Besuch von der Polizei gehabt?»
    «P-polizei? A-aber nein! Wieso?»
    «Der Grinzingermord … Lesen Sie keine Zeitungen?»
    Kropils schmales Elfenbeingesicht wird butterweiß. Er reißt die Augen auf und taumelt zwei Schritte zurück, als habe ihm der Lemming einen Stoß versetzt.
    «Meine Güte … Herr Kropil … Was haben S’ denn?»
    Sebastian Kropil scheint ehrlich schockiert zu sein. Zittert am ganzen Körper. Klammert sich an den Türrahmen und zieht die Schultern hoch, um seinen von Krämpfen geschüttelten Kopf zu stabilisieren. Und trotzdem: Etwas an seinem Mienenspiel will so gar nicht in das übrige Bild des blanken Entsetzens passen. Eine Kleinigkeit nur. Sebastian Kropil lächelt.
    Er ist verrückt, denkt der Lemming, die Topfpflanzen haben ihn in den Wahnsinn getrieben. Oder sein Heiztechniker …
    «Kann ich Ihnen … brauchen S’ was? Ein Pulver?»
    Aber Kropil winkt ab. Atmet ein paar Mal tief durch, versucht, sich zu sammeln, sich in den Griff zu bekommen.
    «W-wann?», gurgelt es aus ihm hervor.
    «Vor zwei Tagen, am … fünfzehnten …»
    «Am fü-, am fü-! An den I-i …!»
    «Ja, genau. An den Iden.»
    Das war entschieden zu viel für Kropil. Jetzt gerät er vollends außer Kontrolle. Er springt mit geballten Fäusten auf und ab und bricht in unbeschreibliches Gelächter aus. Seine schlaksigen Spinnenarme zucken durch die Luft wie die Tentakel einer Riesenkrake, während sein Mund konvulsivisch nach Luft schnappt; dabei stößt er immer wieder ein manisch gegackertes «An den I-i …! An den I-i …!» hervor. So hüpft er fünf-, sechsmal um den verblüfften Lemming herum, bis seine Euphorie allmählich ein Ende findet. Langsam kommt Kropil wieder zur Ruhe.
    Ein Weilchen wartet der Lemming noch. Dann fragt er vor sichtig: «Ihre Schulkameraden von damals … Haben Sie noch Kontakt?»
    Aber so unvermittelt Kropil zuvor die Fassung verloren hat, so plötzlich geht er jetzt auf Distanz. Sein Lächeln weicht kalter Verschlossenheit. Seine Miene wird ausdruckslos.
    «N-nein», sagt er, «es ist l-lange vorbei.»
    «Wissen Sie wenigstens …?»
    «Es ist v-vorbei», unterbricht Kropil.
    «Können Sie nicht …»
    «V-vorbei. V-vergessen. Meine G-gäste warten auf mich.»
    Der Lemming gibt auf. Gegen diese Mauern kommt er nicht an. Und so meint er bedauernd: «Ja, also … Ich kann leider nicht länger … Aber der erste Teil des Konzerts war ausgesprochen …»
    «Sch-schön, dass es Ihnen gef-fallen hat. Sie f-finden wohl alleine hinaus …»
    Es hat zu nieseln begonnen. Gebeugt geht der Lemming die nachtglänzende Gasse entlang. Er hat nichts und doch viel in Erfahrung gebracht. Jetzt, da Grinzinger verblichen ist, beginnen andere, ihr Bild von ihm zu malen. Sie zeichnen unwillkürlich seine Silhouette in die Luft, den Schattenriss, den er auf ihren Seelen hinterlassen hat. Gestern die Witwe, heute der einstige Schüler. Und so ist es immer: Die Lebenden spiegeln die Toten ins Leben zurück.

11
    Es ist nicht mehr als ein Körnchen Erinnerung.
    Blau. Ja, eine blaue Erinnerung …
    Den Namen der Insel hat Janni längst vergessen. Auch den des Schiffes. Irgendwo in der Ägäis war es, eine dieser altersschwachen Linienfähren, so viel weiß er gerade noch. Und dass sie damals Maschinenschaden hatten. Eine Welle, eine Kurbel, ein Gelenk gebrochen, egal, Janni hat sich mit solchen Dingen nie näher beschäftigt. Es hieß, sie müssten warten, einen oder zwei Tage vielleicht, bis das entsprechende Ersatzteil aus Piräus beschafft werden könne. Zuerst wurden jene wenigen Passagiere an Land geschippert, die sich getrauten, von Bord zu gehen. Alle anderen befürchteten, das Schiff könnte ohne sie weiterfahren und sie in der Einöde zurücklassen. Dann tuckerten zwei Boote mit Wasserbehältern los, mit Lebensmitteln und allerlei Kleinkram, der für die Insel bestimmt war, und schließlich ein Teil der Crew. Auch das so genannte Küchenpersonal bekam für ein paar Stunden frei; von wegen Küchenpersonal, es gab überhaupt keine Küche auf diesem Seelenverkäufer. Janni verbrachte seine Tage damit, hinter der Buddel zu stehen und zellophanverpackte Sandwiches zu verteilen, Ouzo und Bier auszuschenken und, als

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