Der Fall des Lemming
trotzdem zu tun. Auf dem Küchentisch liegen fein säuberlich aufgereiht die Ergebnisse seiner bisherigen Nachforschungen. Viel ist es nicht. Eine Nickelbrille. Ein Jahresbericht. Ein Notizblock mit Adressen und Telefonnummern. Zwei lose bekritzelte Zettel. Auf dem einen stehen Worte wie: Brille?, Grinz. Handy: Piepsen?, Poliz. Anruf?, Idenklasse?, Selbstmorde? Die Fragen überwiegen, keine Frage. Auf dem anderen Blatt ist ein durchgestrichenes Fr. 19 . 00 Huber – 21 . 00 Kropil Konzert zu lesen und darunter: Sa. Anrufe Pribil, Steinhauser – Sedlak? Söhnlein Hotel. Jetzt schreibt der Lemming dazu: So. Begräbnis wann?
Etwas fehlt. Wahrscheinlich nichts Wichtiges; trotzdem spürt der Lemming, dass er etwas vergessen hat, etwas, was noch auf diesen Tisch, auf diese Zettel, in diesen Kopf gehört. Es will ihm nicht einfallen. Er holt das Telefon aus dem Vorzimmer, setzt sich, nimmt den Hörer ab und beginnt zu wählen.
Aber der erste Vogel ist ausgeflogen. Bei Peter Pribil geht niemand an den Apparat. Walter Steinhauser ist der Nächste auf der Liste.
«Steinhauser.» Die Stimme klingt brüchig. Es ist die Stimme einer alten Frau.
«Entschuldigung … Bin ich da richtig bei Herrn Walter Steinhauser?»
«Wie bitte? Was sagen S’?»
«Herr Walter Steinhauser?»
«Geh, warten S’. I versteh Sie net … Walter! Walter?»
Ein Krachen in der Leitung, ein Rauschen – der Hörer wird offensichtlich weitergegeben, dann lässt sich ein sonorer Männerbass vernehmen: «Steinhauser.»
«Herr Walter Steinhauser?»
«Wer lasst fragen?»
«Grüß Sie, mein Name ist Wallisch …»
«Schön für Sie. Warum rufen S’ jetzt erst z’ruck?»
«Verzeihen Sie, aber ich …»
«Sie rufen doch wengan Grinzingermord an?»
«Ja … Woher wissen …»
«Dann mach’ ma’s kurz. Von mir kriegen S’ a Story, da kennan sich die andern Revolverblattln eingrabn. An Reißa, vastehn S’? Supa exklusiv; des hab i net amal den Kriminesern … Aber jetzt sagn S’ scho: Was lassen S’ denn springen für a zünftige G’schicht?»
«Ich … ich weiß nicht …»
«An Zwanz’ger fürn Sedlak, an Zwanzger für mi. Drunter geht nix.»
«Sie meinen … Franz Sedlak?»
«Wen sonst? Passen S’ auf. Heut um achte auf d’ Nacht, vorher geht’s net, im Kaffee Kellermann , wissen S’ eh, Klaane Pfarrgassn. Kennan S’ Billard spielen?»
«Na, es geht so …»
«Passt. Alsdann, habe d’Ehre.»
Schon hat Steinhauser eingehängt. Der Lemming aber sitzt da und starrt auf den Hörer in seiner Hand. Wartet darauf, dass seine Gedanken sich ordnen. Sie tun es, nach und nach. Zunächst: Ein weiterer Mann ist aufgespürt. Der Lemming kann es sich sparen, aus fünf möglichen Sedlaks den richtigen herauszufinden. Ferner: Es brodelt hinter den Kulissen. Steinhauser hat sich, wie es scheint, an die Presse gewandt, um ein kleines Geschäft anzubahnen. Gemeinsam mit Sedlak will er ein Stück Vergangenheit zu Geld machen, ein Stück, das er sogar der Polizei verschwiegen hat. Welch ein glücklicher Zufall, dass der Lemming gerade jetzt an ihn geraten ist. Trotzdem hat Fortuna einen Umstand nicht bedacht: Der Lemming ist kein Journalist. Vierzigtausend Schilling für Sedlak und Steinhauser? Woher nehmen? Sei’s drum: Er wird am Abend ins Kaffeehaus gehen. Kommt Zeit, kommt Rat. Doch zunächst hat er etwas anderes vor. Eine Reise zurück ins letzte Jahrhundert, in das gediegene Ambiente der Belle Époque, in die erhabenen Hallen des Hotel Kaiser am Schottenring. Eine Reise, die er zu Fuß antreten kann.
Sein Weg führt ihn durch die Schlickgasse, vorbei an der monumentalen Rossauer Kaserne, einem burgartigen Ziegelbau aus der zweiten Hälfte des neunzehnten Jahrhunderts. Als Bollwerk gegen mögliche Revolutionen wurde die Rossauer Kaserne 1870 fertig gestellt – und schrieb noch am Tag der Eröffnung Geschichte, nämlich Architekturgeschichte. Bei der Planung des mit Erkern und Giebelchen, Türmchen und Zinnen wohl bestückten Gebäudes war alles bedacht worden, alles bis auf eines: Man hatte die Toiletten vergessen. Bis ins Jahr 1990 war die Polizei hier untergebracht; danach gab es Bestrebungen, die Kaserne in ein Kulturhaus umzuwandeln. Freie Werkstätten und Künstlerateliers? Ein allzu friedliches Unterfangen, fanden die obersten Chargen des Bundesheers. Und so ließen sie rasch die Büros der Abteilung für militärische Vermessungstechnik hierher verlegen.
In der Nähe der Wiener Börse am Schottenring liegt also der
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