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Der Fall des Lemming

Der Fall des Lemming

Titel: Der Fall des Lemming Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Stefan Slupetzky
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trüben Augen, verzog den Mund zu einem zahnlosen Grinsen und nahm seinen Marsch wieder auf.
    Nun wusste Janni nicht mehr als zuvor, mit dem Unterschied, dass ihm reichlich absurde Gedanken den Kopf verwirrten: eine Peepshow in diesem Zweihundert-Seelen-Kaff am Arsch der hellenischen Welt? Das konnte nicht sein. Oder wollte ihn der Alte gar verkuppeln, bot er ihm ein Schäferstündchen mit seiner Tochter oder Enkeltochter an? Oder gar mit seiner Ziege? Ungewollt musste Janni schmunzeln.
    Endlich waren sie wieder am Rand des Dorfes angelangt und stiegen bald eine gewundene Treppe hinauf, die zu einem abgelegenen Häuschen am Hang des Hügels führte. Eine leichte Brise war aufgekommen und strich über das halb zerrissene Tuch, das anstatt einer Tür den niedrigen Eingang der Hütte verschloss. Der Greis zog mit zittrigen Händen den Stoff beiseite. Janni trat ein. Seine Augen brauchten ein paar Sekunden, um sich an das Dämmerlicht zu gewöhnen; unschlüssig stand er da und blinzelte, bis er die ersten Konturen erkennen konnte. Ein einfacher Tisch mit zwei bastbespannten Stühlen, ein Lager, mehr Strohsack als Bett, ein kleiner windschiefer Ofen für die Wintermonate, eine hölzerne Kommode, deren fehlende Beine durch Lehmziegel ersetzt waren. Das war alles.
    Der Alte war hinter den Tisch getreten, um mit heiserer Stimme auf Janni einzuschnattern, und er warf dabei hektisch die Arme hoch, als ginge es um Leben oder Tod. Wieder vollführte er sein obszönes Fingerspiel, indem er die Hände Jannis Gesicht näherte, und da, mit einem Schlag, wurde Janni alles klar. Er griff sich an den Kopf und brach in lautes Gelächter aus.
    Die anderen Dorfbewohner hatten sich zur Mittagsruhe in ihre Häuser zurückgezogen. Der alte Mann hatte sehr schwache Augen. Das Tuch vor seiner Hütte war zerrissen. In seinen flehenden, zittrigen Händen hielt er – Nadel und Faden.

12
    DIE REINE WAHRHEIT VOM 18.   3.   2000
    Wienerwaldmord – Polizei tappt weiter im Dunkeln. Keine neuen Erkenntnisse im Mordfall Grinzinger – die zuständigen Beamten seien aber Tag und Nacht im Einsatz. Das musste gestern ein Sprecher der Polizei gegenüber Redakteuren der «Reinen» eingestehen. Wie schon berichtet, wurde am vergangenen Mittwoch der 61-jährige Rentner Dr.   Friedrich Grinzinger auf grausame Weise ums Leben gebracht. Das brutale und professionelle Vorgehen der Täter – der allseits beliebte Pädagoge wurde regelrecht hingerichtet – legt  einen Hintergrund im organisierten Verbrechen nahe. Ein in unmittelbarer Nähe des Tatorts festgenommener Mann – angeblich russischer Abstammung – musste aber aus Mangel an Beweisen wieder freigelassen werden. Der Tote, der ein ruhiges und zurückgezogenes Leben führte, hatte laut Informationen der «Reinen» keine Feinde. Es lässt sich daher nicht ausschließen, dass er zum Opfer einer tragischen Verwechslung wurde. Dr.   Grinzinger wird morgen, Sonntag, auf dem Wiener Zentralfriedhof zur letzten Ruhe gebettet.

    Der Lemming legt die Zeitung weg und sieht zu Castro hinüber.
    «Ein Verdächtiger russischer Abstammung; damit bin ich gemeint, mein kubanischer Freund. Ich, der Lemming. Na, freut dich das?»
    Castro wirkt ausgesprochen fidel. Er steht am Fenster und sieht schwanzwedelnd in den Regen hinaus. Täte er das nicht schon seit dem frühen Morgen, man könnte ihn für einen ganz normalen Hund halten. Immerhin scheint sich sein Zustand gebessert zu haben; noch in der Nacht ist er aus der Wanne geklettert und hat mit lautem Schmatzen seinen Fressnapf geleert, um sich danach auf einen Verdauungsspaziergang durch die Wohnung zu begeben. Auf dem Rückweg hat er am Bett des Lemming Halt gemacht. Und der hat im Halbschlaf die feuchtwarme Zunge des Hundes auf seiner Wange gespürt. Das war wie ein unbeholfenes Dankeschön. Das hatte was.
    Überhaupt ist es ein guter Vormittag. Ein ruhiger Vormittag. Kein Dröhnen, kein Hämmern, kein plötzliches Beben der Wände, nur das stetige, friedliche Klopfen des Regens auf dem Fensterbrett. Die Baustelle im Nachbarhaus liegt verwaist, wahrscheinlich sind die Arbeiter jetzt daheim oder beim Wirt, oder sie lärmen in der Datscha des Architekten weiter, zimmern ihm eine Veranda, mauern ihm einen Swimmingpool, machen unter der Hand ein paar Schilling extra. So kann selbst der Lemming einen Sinn hinter dem Wahnsinn erkennen: Die Stille auf dem benachbarten Schlachtfeld beschert auch ihm, dem Arbeitslosen, eine Art wohlverdienter Wochenendstimmung.
    Er hat

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