Der Fall des Lemming
einen Tee mit Milch, wenn Sie haben …» Fräulein Elfis Brauen wandern noch ein Stückchen höher.
«Milch», wiederholt sie ungläubig. «Milch …»
«Wenn Sie so freundlich sind …»
«Einmal Tee mit … Und der Herr Leopold?»
Ein großer Zwiespalt tut sich jetzt im Lemming auf, ein schmerzhafter Riss zwischen Körper und Geist, zwischen knurrendem Magen und klarem Verstand. Ein anderer Leopold kommt ihm in den Sinn, nämlich Leopold Figl, der ehemalige österreichische Außenminister und so genannte Vater des Staatsvertrags, von dem es heißt, er habe einst Chruschtschow und Molotow unter den Tisch getrunken, habe sie regelrecht abgefüllt, sie weich gesoffen und die Sowjets auf diese Art zum Abzug ihrer Besatzungstruppen bewegt. «Österreich ist frei!», hat Figl am fünfzehnten Mai 1955 vom Balkon des Schlosses Belvedere gerufen, und noch heute weiß jedes Kind, dass das Land diese Freiheit seinem guten Wein zu verdanken hat. Aber was, wenn die Russen damals den süffigen Heurigen abgelehnt, wenn sie auf Tee mit Milch beharrt hätten? Hätte sich Figl alleine betrunken? Es geht, denkt der Lemming, doch schließlich darum, die Distanz zu verringern, und nicht, sie zu vergrößern. Zeigen wir uns also solidarisch und lassen wir das Beuschel Beuschel sein …
«Njet», meint er gedankenverloren, «spassibo. Nur noch ein Seidel bitte.»
Fräulein Elfis Augenbrauen nähern sich dem Zenit ihrer Schädeldecke. Dann zieht sie ab, wortlos und sichtlich pikiert.
Eine Zeit lang herrscht Ruhe am Tisch. Aber irgendwann droht die Spannung unerträglich zu werden, und der Lemming bricht das Schweigen.
«Sagen Sie … Hat sich unser Freund inzwischen beruhigt?« Der vertrauliche Ton seiner Worte ist unüberhörbar. Trotzdem scheint sich Huber nicht daran zu stoßen – ein gutes Zeichen, findet der Lemming.
«Ich schätze, er hat sich beruhigt. Und er tut es wohl noch immer …»
« Augenschein ?»
«Ja.»
Huber schlägt bedrückt die Augen nieder. Keine Frage, da ist etwas, was ihn quält, in ihm arbeitet, wühlt.
«Und Sie? Sind nicht oft dort? Bei den anderen?»
«Nicht mehr … Hören Sie … Ich weiß gar nicht, was das für einen Sinn haben soll. Sie können mir nicht helfen, und ich kann Ihnen nicht helfen. Wenn Sie glauben …»
«Gar nichts glaub ich. Nur die Ruhe. Ich will ja nichts von Ihnen. Und was meinen Herrn Exkollegen angeht, von dem will ich auch nichts. Weniger als nichts … Wissen Sie eigentlich, was damals passiert ist? Warum ich nicht mehr …?»
«Ich kann’s mir zusammenreimen. Jeden Tag ein Stück mehr kann ich’s mir zusammenreimen. Und Sie können mir glauben, ich tät mich sofort versetzen lassen, am besten ganz weit weg, wenn nicht …»
Schweigen. Fräulein Elfi nähert sich jetzt, ein Tablett in der Hand. Mit dem Ausdruck größten Widerwillens stellt sie Huber seinen Tee mit Milch auf den Tisch, als sei die Tasse mit einer ansteckenden Krankheit gefüllt. Hinter ihr rauscht der dicke Plavaczek vorbei und wirft dem Lemming den Blick einer waidwunden Gazelle zu. «Kinder, Kinder», murmelt er kopfschüttelnd.
«Also versetzen lassen», sagt der Lemming, als sie wieder alleine sind, «am besten weit weg. Und warum tun Sie’s nicht?»
Huber klammert sich an seine Tasse, beginnt wild darin herumzurühren, ringt um eine Antwort. Aber dann wirft er den Löffel hin und schaut dem Lemming ins Gesicht. «Dragica …», stößt er hervor.
Das also ist es. So einfach, so nahe liegend. Und doch so absurd. Der Lemming wäre nicht im Traum darauf gekommen. Er sitzt da und schaut in die traurigen Augen Hubers, und es fällt ihm schwer, ein Schmunzeln zu unterdrücken. Das ist es also. Der junge Mann hat sich verliebt. Mit dem dünkelhaften Stolz des frisch gebackenen Superbullen hat er eines Tages die heilige Trinkhalle der Krimineser betreten, das Lokal Augenschein , und hat prompt sein Trenchcoatherz an das kroatische Blondchen hinter der Bar verloren. Aber Huber ist kein Superbulle. Er ist ein Kälbchen, noch feucht vom Fruchtwasser, dessen unsichere Beine kaum der Schwerkraft trotzen. Huber hat offensichtlich verspielt, bevor er die Regeln begriffen hat. Das Spiel nennt sich Hackordnung. Die oberste Regel lautet: Es gibt nur einen König. Und der heißt Adolf Krotznig. Dragica gehört ihm. Sie ist sein Eigentum.
«Dragica», wiederholt der Lemming, als könne er es immer noch nicht glauben. «Klingt, wie soll ich sagen … ein bisserl problematisch.»
«Man kann
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