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Der Fall des Lemming

Der Fall des Lemming

Titel: Der Fall des Lemming Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Stefan Slupetzky
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weiterlaufen, die Ketzergasse entlang, die kurz vor der Jesuitenschule verschämt ihre Richtung ändert und plötzlich Haselbrunnerstraße heißt. Um fünf vor neun steht er vor dem Haus in der Randgasse, froh, es doch noch geschafft zu haben. Offenbar findet das Konzert in der Wohnung des Künstlers statt; auf einem Zettel an der halb geöffneten Tür im ersten Stock stehen abermals die Worte la plantasie du kropil , und aus dem Inneren dringen gedämpfte Stimmen. Der Lemming durchquert den menschenleeren Vorraum und betritt das Wohnzimmer.
    Sofort hat er den Eindruck, in eine Familienfeier geraten zu sein. Wie auf Kommando ist das wohltemperierte Gemurmel verstummt, und acht erstaunte Augenpaare blicken ihn an.
    «Äh … bin ich da richtig …?»
    «A-aber ja, zur P-performance?» Ein knochenbleicher Mann mit Hornbrille stakst auf ihn zu, verbeugt sich und streckt ihm linkisch seine schlaffe Hand entgegen. «B-bonjour. K-kropil.»
    «Äh, ja. Wallisch.»
    «W-wein? Bitte …» Bald steht der Lemming mit einem Glas sauren Weißweins in einer Ecke des Zimmers und betrachtet die übrigen Gäste. Schlagartig wird ihm klar, warum sie wie eine Familie aussehen: fünf Männer und zwei Frauen, durchwegs schwarz gekleidet. Und bis auf eine der Frauen tragen alle, wirklich alle, dunkle Hornbrillen im Gesicht. Der Raum birst förmlich vor Intellektualität.
    Auf ein schüchternes Zeichen des Gastgebers hin verteilt sich jetzt das Publikum auf die bereitgestellten Stühle und Fauteuils; der Lemming selbst findet Platz in einem zerschlissenen Ohrensessel. Es wird ruhig.
    «L-licht bitte.»
    Irgendjemand bedient den Schalter neben der Eingangstür. Halogenlampen flammen auf und beleuchten einen Tapeziertisch, der fast die gesamte Breite des Raumes einnimmt. Darauf sechs Topfpflanzen, in Reih und Glied wie Zinnsoldaten vor der Schlacht, an deren Blättern ein Gewirr aus Kabeln und Drähten befestigt ist. In der Mitte des Tisches sitzt der Künstler vor einem geheimnisvollen schwarzen Kästchen, einer Art Mischpult, wie es scheint.
    Sehr lange bleibt es nun sehr still.
    Ein Auto fährt draußen vorbei, verliert sich schnurrend in der Nacht.
    Stille.
    Irgendwo quietscht ein Kind. Eine Frau vielleicht? Leises Stöhnen.
    Stille.
    Von ferne ein Knarren.
    Laternenschaukeln im Wind.
    Und wieder Stille.
    «F-ficus», sagt Kropil plötzlich.
    Er dreht an einem der Regler der schwarzen Box, bis aus den Lautsprechern beiderseits des Tisches ein Summen ertönt, wie es der Lemming bereits am Computer des Café Modern vernommen hat.
    Das Summen summt. Und summt.
    «P-palme», meint Kropil, «V-vagina.»
    Dann ist es wieder still.
    Plötzlich ein verhaltenes Rauschen, ein beinahe unhörbares Knistern. Kropil verdreht die Augen, wirft einen verärgerten Blick nach hinten, schüttelt den Kopf. «F-führerb-bunker», sagt er, «P-palme.»
    Der Lemming weiß nicht so recht, wie ihm geschieht. Er kauert in seinem Ohrensessel und wird von einem einzigen, alles überragenden Gedanken beherrscht: dass er beim Plavaczek drei Seideln getrunken hat. Und dass er seither nicht  aufs Klo gegangen ist. Es ist die reine Qual. Die anderen Gäste wirken dagegen höchst konzentriert. Vollkommen regungslos, ja andächtig folgen sie der Darbietung, und hinter ihren Hornbrillen scheinen sich mentale Erkenntnisse ungeheuren Ausmaßes aufzutun, die meditative Durchdringung des Kosmos vielleicht, das große Satori, die finale geistige Erfahrung der vierten oder gar der fünften Dimension.
    «F-ficus», meint Kropil jetzt noch einmal. «P-pause.»
    Ein Räuspern, ein Hüsteln. Während die anderen Gäste nur langsam wieder zu sich kommen, springt der Lemming auf und hastet hinaus, um die Toilette zu suchen. Jetzt ist er an der Reihe, jetzt lauscht er voller Andacht dem eigenen Plätschern, dieser Symphonie der Erleichterung. Selig lächelnd macht er sich nach vollbrachter Tat auf den Rückweg, als ihm im Vorraum der Künstler entgegentritt. «Und? Was m-meinen Sie?»
    «O ja», beeilt sich der Lemming zu versichern, «durchaus, äh, interessant …»
    «Ich w-weiß schon, d-diese dummen G-geräusche im ersten D-drittel, d-die Zentralheizung … Ich m-muss mit dem T-techniker reden.»
    «Ah ja … verstehe. Ich hatte mich schon gewundert …»
    «Und S-sie? Auch in der M-musikbranche?»
    Der Lemming fasst sich ein Herz. Obwohl er vorhatte, Kropil erst nach dem Konzert zu befragen, sieht er nun seine Chance gekommen. Und nichts wäre ihm lieber, als sich den

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