Der Fall Lerouge
bewohnte. Dieser Sohn, Noël Gerdy, war ein gutaussehender Mann von dreiunddreiÃig Jahren, mit einem intelligenten Gesicht, groÃen schwarzen Augen und gelocktem schwarzem Haar. Als Anwalt galt er als talentiert und rührig. Er war ganz seinem Beruf ergeben, was eine gewisse Grundsatzstrenge mit sich brachte.
Bei Madame Gerdy fühlte sich Vater Tabaret wie zu Hause, und Noël betrachtete er als seinen Sohn. Daà er Madame Gerdy trotz ihrer fünfzig Jahre nicht um ihre Hand bat, geschah weniger deshalb, weil er einen Korb zu bekommen fürchtete, als vielmehr weil er vor den Konsequenzen einer Ehe zurückschreckte. Jedoch hatte er in seinem Testament Noël zum Alleinerben eingesetzt.
An diesem Abend auf dem Heimweg kreisten seine Gedanken nur um den Mordfall. Immer wieder rief er sich die Bemerkung der Madame Lerouge ins Gedächtnis, daà sie habe, was sie brauche, und jederzeit mehr bekommen könne, wenn sie nur wolle. Die Witwe hatte offensichtlich etwas gewuÃt, an dessen Geheimhaltung reiche Leute brennend interessiert waren. Das war ihre Stärke gewesen, und sie muÃte diese ihre Stärke wohl miÃbraucht haben und war deshalb für immer zum Schweigen gebracht worden. Aber was war das für ein Geheimnis? Und wie war sie in seinen Besitz gekommen? Vielleicht hatte sie in jüngeren Jahren in einem vornehmen Haus in Diensten gestanden, vielleicht war sie die Vertraute ihrer Herrin in einer Liebesaffäre gewesen. Für den Fall müÃte nicht nur diese Frau, sondern auch noch der Liebhaber gefunden werden. Jedenfalls hatte Gevrol unrecht; wenn er Raub als Mordmotiv annahm. Die Zukunft würde es beweisen.
Als Vater Tabaret vor sein Haus kam, sagte die Pförtnerin in der Loge zu ihrem Mann: »Er sieht heut so nachdenklich aus.«
»Es ist eine Schande«, entgegnete der Mann, »sich in seinem Alter so zu benehmen. Sieh nur: Auf offener StraÃe gestikuliert er, und er spricht mit sich selbst. Als ob er betrunken wäre.«
Nachdem die Pförtnerin ihn eingelassen hatte, ging Tabaret auf die Tür seiner Wohnung zu und klingelte.
»Ich dachte schon«, sagte die Haushälterin, als sie öffnete, »Sie kämen heute nicht mehr. Haben Sie schon gegessen?«
»Noch nicht.«
»Ein Glück, daà ich Ihr Essen warm gehalten habe.« Als er dann aber vor der Suppe saÃ, war er so in Gedanken versunken, daà er zu essen vergaÃ. Wild fuhr er, als ihm plötzlich ein Gedanke kam, mit dem Löffel durch die Luft.
Jetzt hatâs ihn erwischt! dachte Nanette, und ungehalten fuhr sie ihn an: »Haben Sie denn keinen Hunger?«
»Doch, doch«, sagte er. »Ich bin schlieÃlich seit heute morgen bis über beide Ohren in der Arbeit ...« Dann verharrte er wieder mit offenem Mund und abwesendem Blick.
»Sie haben gearbeitet?« fragte Nanette ungläubig, da sie wie fast alle, die Vater Tabaret kannten, nichts oder so gut wie nichts von seinen Aktivitäten ahnte.
»lch habâs!« schrie Tabaret plötzlich und warf die Hände so heftig hoch, daà die Haushälterin in die entgegengesetzte Zimmerecke floh. »Da ist ein Kind im Spiel!«
»Ein Kind?« fragte Nanette verwirrt.
»Was wollen Sie denn noch hier?« schrie Tabaret in Wut. »Gehen Sie in die Küche!«
Nanette verlieà eilends das Zimmer. Sie dachte: Jetzt ist er ganz verrückt geworden.
Vater Tabaret löffelte inzwischen gedankenlos die kalt gewordene Suppe. Dann rief er nach dem Braten und schickte die Frau wieder hinaus.
»So muà es sein«, murmelte er, während er an einer Hammelkeule säbelte. »Die Lerouge war bei einer vornehmen Dame in Stellung. Ihr Mann, ein Seefahrer, war auf einer längeren Fahrt, und die Dame hatte einen Galan und wurde von ihm schwanger. Und die Lerouge hat ihr geholfen, das Kind heimlich zur Welt zu bringen.«
Er schlang den Braten hinunter, rief nach dem Dessert und schickte Nanette sofort wieder aus dem Zimmer. Eine Schande ist es, dachte Nanette, der weià bestimmt nicht, was er gegessen hat.
Tabaret sinnierte weiterhin laut: »Und was wurde aus dem Kind? Hat man es umgebracht? Unwahrscheinlich. Sicherlich hat Madame Lerouge es aufgezogen. Das Kind konnte man ihr zwar wieder nehmen, aber nicht ihr Wissen um seine Existenz. Der Vater ist der Herr, der mit der feinen Karosse vorfuhr, die Dame in Begleitung des hübschen jungen Mannes ist die Mutter! Die Alte
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