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Der Fall Lerouge

Der Fall Lerouge

Titel: Der Fall Lerouge Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Èmile Gabroriau
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möchte ich nicht. Eher nehme ich mir einen Brief, ganz gleich, ob ich entdeckt werde. Die Echtheit der Schrift muß geprüft werden.
    Gerade hatte Tabaret einen der Briefe in eine seiner tiefen Taschen gestopft, da kam Noël zurück. Er sah sehr beherrscht drein.
    Als sei nichts von Bedeutung geschehen, nahm er ruhig in einem Sessel Platz.
    Â»Wie befindet sie sich?« fragte Tabaret.
    Â»Es geht ihr schlecht«, antwortete der Anwalt. »Sie rast im Fieber. Die gemeinsten Anschuldigungen hat sie mir entgegengeschleudert und mir vorgeworfen, ich sei der schlechteste Mensch unter der Sonne. Sie muß den Verstand verloren haben.«
    Â»Holen Sie einen Arzt«, sagte Tabaret.
    Â»Gleich«, erwiderte Noël, während er die Briefe wieder ordnete. Das Bedürfnis, mit Tabaret weiter seine Lage zu diskutieren, hatte er anscheinend nicht mehr. Tabaret aber wollte um jeden Preis die Unterredung fortsetzen, und so begann er: »Ihre Geschichte verwirrt mich, je mehr ich über sie nachdenke. Wäre ich an Ihrer Stelle, ich wüßte nicht, was ich tun sollte.«
    Â»Das glaube ich Ihnen«, sagte No ë l. »Eine solche Lage gäbe auch einem Scharfsinnigeren, als Sie es sind, Rätsel auf.«
    Vater Tabaret saß ein kleines Lächeln in den Mundwinkeln. »Da haben Sie recht«, sagte er. Dann fuhr er fort: »Sind Sie schon irgendwie aktiv geworden? Haben Sie Madame Gerdy zur Rede gestellt?«
    No ë l war die Fortsetzung des Gesprächs offensichtlich unangenehm; aber Tabaret, der mehr wissen wollte, tat so, als bemerke er Noëls Zögern nicht.
    Â»Ich war gerade dabei, sie zu fragen«, sagte er. »Und?«
    Â»Was soll sie schon erwidern. Die Entdeckung muß sie umgeworfen haben.«
    Â»Hat sie nicht versucht, sich zu rechtfertigen?«
    Â»Doch, doch. Das Lügen ist sie schließlich gewohnt. Sie wollte mir den Briefwechsel auf ihre Weise deuten. Dabei rutschte sie wieder in Gott weiß wie viele Lügen.« Umständlich band der Anwalt das Bündel Briefe wieder zusammen und legte es in die Schublade seines Sekretärs. Daß ein Brief fehlte, merkte er nicht. »Die Kinder seien nie vertauscht worden, wollte sie mir einreden«, fuhr Noël fort. »Bei den Beweisen, die ich in der Hand habe, ist das ein schwieriges Unterfangen. Vielleicht rührt ihre Krankheit daher. Bedenken Sie: Es geht um ihren heißgeliebten Sohn, der mir Namen und Vermögen zurückgeben müßte. Das bringt sie um. Ja, mich konnte sie berauben. Doch nur der Gedanke daran, ihr Sohn müßte seine jetzige Stellung aufgeben, ist zuviel für sie.«
    Â»Ob sie wohl den Grafen davon unterrichtet hat, daß Sie die Briefe haben?« fragte der Amateurdetektiv, der sich in Gedanken die ganze Zeit über mit dem Mord an der Witwe beschäftigte.
    Â»Der Graf weilt bereits länger als einen Monat außerhalb von Paris. Vor Ende dieser Woche wird er nicht zurückerwartet.«
    Â»Das wissen Sie?«
    Â»Ich wollte ihn sprechen.«
    Â»Ihn sprechen?«
    Â»Ich muß mich doch um mein Recht kümmern, kann mich doch nicht so mir nichts, dir nichts bestehlen lassen. Was denn soll mich davon abhalten, das Unrecht, das man mir angetan hat, in die Welt hinauszuschreien? Ich werde mich meiner Haut wehren.
    Â»So sind Sie zu Graf Commarin gegangen?«
    Â»Nicht sofort. Nach der Entdeckung war ich erst einmal ganz verwirrt, blind vor Aufregung und mutlos. Ich schwankte, ob ich den Besuch überhaupt machen sollte. Der Skandal – denn einen Skandal wird die Entdeckung auslösen – schreckte mich. Und ich möchte nicht, daß mein wiedererlangter Name sogleich befleckt wird. Es müßte doch einen Weg geben, der alle Beteiligten zufriedenstellt, eine Reglung unter Ausschluß der Öffentlichkeit und ohne Aufsehen.«
    Â»Aber dann haben Sie sich doch entschlossen?«
    Â»Vierzehn Tage hat es gedauert. Während dieser zwei Wochen lebte ich wie in Trance. An ordentliche Arbeit war kaum zu denken. Zwar schuftete ich den Tag über wie ein Berserker, doch nur, um müde zu werden, und in der Hoffnung, nachts im Schlaf Vergessen zu finden. Trotzdem habe ich seit der Entdeckung kein Auge zugetan.«
    Tabaret sah heimlich auf die Uhr und fragte sich, ob wohl Monsieur Daburon um diese Zeit schon im Bett wäre.
    Â»Nachdem ich wieder einmal eine Nacht keinen Schlaf gefunden hatte«, nahm Noël seinen Bericht wieder auf,

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