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Der Fall Lerouge

Der Fall Lerouge

Titel: Der Fall Lerouge Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Èmile Gabroriau
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sehr wichtig sein.«
    Â»Meine Gelassenheit schien ihn unsicher zu machen. Er wurde höflich und sagte: ›Meine Zeit ist knapp bemessen. Ich bin mit Mademoiselle d’Arlanges, meiner Braut, verabredet. Könnten wir nicht ein anderes Mal sprechen?‹«
    Noch eine Frau, dachte Tabaret.
    Â»Obwohl ich ihm erklärte, daß die Sache keinen Aufschub dulde, schickte er sich an, mich zu entlassen. Da zog ich den Briefwechsel des Grafen aus der Tasche und reichte ihm ein Schreiben aus dem Bündel. Er wurde sofort zugänglich, als er die Handschrift seines Vaters erkannte, sagte, er stehe mir sofort zur Verfügung, müsse nur noch ein Billett an die Dame schreiben, mit der er verabredet sei. Als er dem Kammerdiener die Nachricht übergeben hatte, bat er mich in die Bibliothek.«
    Â»Wie reagierte er auf die Briefe? Wurde er nervös?«
    Â»Ganz und gar nicht. Er bot mir einen Stuhl an, setzte sich auch und forderte mich dann auf, mein Anliegen vorzutragen. Auf diesen Moment hatte ich lange gewartet, und ich kam sofort zur Sache, erklärte ihm, daß ich etwas zu enthüllen hätte, das kaum glaubhaft und für ihn mit Sicherheit schmerzlich sei. Er blieb gelassen und sagte nur: ›Bitte, Monsieur, fangen Sie an.‹ Es hielt mich nicht auf dem Stuhl, als ich begann: ›Leider, Monsieur, muß ich Sie mit der Tatsache konfrontieren, daß Sie nicht der legitime Sohn des Grafen Commarin sind. Diese Briefe werden es Ihnen beweisen. Sein legitimer Sohn lebt, und in seinem Auftrag bin ich hier.‹ Ich beobachtete sein Gesicht, als ich das sagte, und es schien mir für einen Augenblick so, als wolle er mich anspringen. Doch dann sagte er nur, indem er die Hand ausstreckte: ›Die Briefe!‹ Ich gab sie ihm.«
    Â»Sie haben ihm die Briefe gegeben!« rief Tabaret bestürzt. »Wie konnten Sie so unvorsichtig sein?«
    Â»Warum hätte ich sie ihm nicht geben sollen?«
    Â»Und was, wenn er sie ... vernichtet hätte?« Dem alten Mann stockte der Atem.
    Â»Ich war doch bei ihm«, sagte Noël, und in seiner Stimme war eine gespenstische Gelassenheit. »Die Briefe waren keine Sekunde in Gefahr.« Während er das sagte, hatten seine Züge einen solchen Ausdruck von wilder Entschlossenheit angenommen, daß Tabaret unwillkürlich dachte: Er hätte ihn erwürgt!
    Â»Ich lenkte seine Aufmerksamkeit, wie ich es bei Ihnen heute abend getan habe, auf die entscheidenden Stellen. Beim Lesen überflog ein solcher Ausdruck von Trauer sein Gesicht, den ich nie vergessen werde. Wie er da so an dem kleinen Tisch saß, würde ihn sein eigener Kammerdiener nicht wiedererkannt haben. Seine Lippen preßten sich beim Lesen so fest zusammen, daß sie alle Farbe verloren; auf der Stirn bildeten sich große Schweißperlen, die er mechanisch mit seinem Taschentuch wegwischte. Er schwieg, und keine Bewegung verriet, was in ihm vorging. Am liebsten hätte ich ihn an mich gerissen, die Briefe in das lodernde Kaminfeuer geworfen und ihm zugerufen: ›Bruder, laß uns alles vergessen und einander lieben und achten.‹«
    Â»Noël!« rief Vater Tabaret bewegt. »Daran erkenne ich dich!«
    Â»Aber wußte ich, daß er mich als Bruder anerkennen würde, wenn die Briefe vernichtet waren?«
    Â»Da hast du auch wieder recht«, sagte Tabaret ein wenig ernüchtert.
    Â»Nach ungefähr einer halben Stunde, als er mit dem Lesen fertig war, stand er auf, sah mich fest an und erklärte: ›Monsieur, sind diese Briefe echt, dann steht fest, daß meine Mutter nicht die Gräfin Commarin ist. Jedoch können wir bis jetzt nur vermuten. Haben Sie noch anderes Beweismaterial?‹ Darauf war ich gefaßt, und ich sagte: ›Germain kann es bezeugen.‹ Der sei schon lange tot, erklärte er, und als ich auf die Amme hinwies, auf Madame Lerouge, und ihm sagte, daß sie noch lebe, und zwar nicht weit von Paris entfernt, nämlich in Jonchère ...«
    Â»Was hat er dazu geäußert?« unterbrach ihn Tabaret.
    Â»Nach einem Augenblick schweigenden Nachdenkens sagte er: ›Ich kenne sie. Mein Vater, den ich dreimal nach Jonchère begleitet habe, hat ihr große Summen ausgehändigt. Das habe ich gesehen.‹ Daraufhin verließ er das Zimmer und kam nach einigen Minuten zurück. ›Wo kann ich den legitimen Sohn des Grafen treffen?‹ fragte er. ›Er steht vor Ihnen‹,

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