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Der Fall Maurizius

Der Fall Maurizius

Titel: Der Fall Maurizius Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Jakob Wassermann
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broschierte Exemplare, und zwar auffallend viele Spezialwerke über jüdisches Altertum, semitische Sprachwissenschaft, hebräische Lexika, Talmudausgaben, Bibelexegesen, Jahresberichte orientalischer Gesellschaften und kabbalistische Schriften. Regale gab es nicht. Da war keine Atmosphäre, die ein »Heim« andeutet; es war ein Magazin von anscheinend nicht zusammengehörigen, zufällig zusammengeratenen Gegenständen. An der Decke und in den Ecken hingen Spinnweben. Die Fensterscheiben waren so lange nicht gewaschen worden, daß sie kaum noch durchsichtig waren. Zierat, Bilder, irgendwelche bequeme Behelfe, außer einem alten zerschlissenen Sofa, schienen dem Bewohner unbekannt. Es war das traurigste, verwahrlosteste, stallähnlichste Quartier, das Etzel je gesehen hatte. Nachdem er sich durch einen stockfinstern Gang durchgetastet, an dem noch fünf oder sechs Parteien hausten, ein Kolporteur, eine Waschfrau, ein Krankenpfleger, ein Photograph mit kinderreicher Familie, hatte er angeklopft, niemand hatte sich gerührt, und er stand dann in der Mitte der öden Stube wie ein Pilz in einem Möbelwagen. Nach einer Weile trat Warschauer aus der Schiebetür und nickte dem neuen Schüler mit einer Freundlichkeit zu, die das lehmig-fahle Gesicht für mehrere Sekunden dem eines grinsenden alten Weibes ähnlich machte.
    So wüst und schmutzig seine Umgebung ist, so peinlich sauber ist er an seiner Person. Bisweilen steht er auf, greift nach einer Bürste, die an der Wand hängt und schabt über Rock und Weste. Alle fünfzehn bis zwanzig Minuten verschwindet er durch die Schiebetür, wäscht sich umständlich die Hände, dann begibt er sich wieder, mit dem Altweibergrinsen, auf seinen Platz, legt die fetten weißen Hände, die so kurzgeschnittene Nägel haben, daß sich die Fingerkuppen wie Hütchen darüber wölben, mit prälatenhafter Bedachtsamkeit auf seine Knie und fährt im Unterricht fort. Seine Methode ist einfach und praktisch. Er legt das Hauptgewicht auf Lautgebung und lebendige Mitteilung, die Grammatik exemplifiziert er beiläufig. Er bezeichnet Sichtbares, Hörbares und schreibt einzelne Vokabeln mit Kreide auf eine Tafel, die auf einem Gestell neben dem Tische lehnt. Er merkt nach kurzer Zeit, daß er einen jungen Menschen von humanistischer Bildung vor sich hat, das verdoppelt seine grimassierende Freundlichkeit, an der nur die Epidermis Anteil hat, und da er Fundamente voraussetzen darf, wird sein Verfahren abkürzend. Er weist auf etymologische Wurzeln hin und auf Eigenschaften der Engländer, deren Resultate die Gedrungenheit von Wort und Sprache sind. Das prägt sich ein. Es fallen Bemerkungen wie achtlos hingestreute Kleinmünze eines Millionärs. Aber was er sagt, ist ohne Augen gesagt, ohne Blick; die schwarzen Brillengläser sind wie äußere Bestätigung davon. Ich möcht ihm die Brille herunterreißen, denkt Etzel, es ist ja, wie wenn er einen vexieren wollte. Sein Lerneifer und seine geistige Schnelligkeit setzen Warschauer in ein Erstaunen, das offenbar erheuchelt ist, es macht manchmal sogar den absurden Eindruck, als wolle er die Begeisterungsausbrüche des lächerlichen Schirmer parodieren. Etzel fühlt sich befangen, das jesuitische Getue ärgert ihn, in der zweiten Stunde fragt er, warum ihn der Professor verhöhne, er bilde sich ja auf seine spärlichen Kenntnisse nichts ein. Erschrocken-beschwörende Geste Warschauers, zu deuten: um Gottes willen, junger Mann, was denken Sie von mir, wie käm ich dazu, ich, wer bin denn ich? Aber es ist Komödie. Wie alles andere. Je mehr Etzel sich um ihn bemüht, je mehr nimmt seine scheinheilige Jovialität zu. Er merkt natürlich, daß das kein gewöhnlicher Junge ist, die gute Kinderstube ist unverkennbar, seine Artigkeit und Gefälligkeit verraten geheime Absicht; wo kommt er her? was hat er im Sinn? Doch es ist nicht beunruhigend, wenn einem ein Hündchen um die Beine schnuppert, mag es schnuppern, zu dem Fußtritt, der es verscheucht, ist immer noch Zeit; indessen wirft man ihm ein Stückchen Zucker und hie und da mal einen Knochen hin, mag es schnuppern, mag es nagen. Das ungefähr drückt Waremme-Warschauers Wesen aus, Etzel versteht es gut genug. Trotzdem gelingt es ihm, sich in die Lebensgewohnheiten des Mannes einzuschmeicheln, einzuzwängen; er macht es wie der Parasit, der seinen Wirt zur Domestikation bringt. Die schmarotzerischen Manöver beginnen damit, daß er zehn Minuten, zwanzig Minuten vor der ihm anberaumten Stunde kommt, auch wenn

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