Der Fall Maurizius
ein anderer Schüler noch beim Unterricht sitzt (allzu viele Schüler hat der »Professor« nicht), und daß er nach der Stunde noch bleibt, auch wenn Warschauer sich an seine Arbeit begibt. (Soviel Etzel ergründen kann, ist er im Auftrag eines Museumsdirektors und unter dessen Namen mit einer Zusammenstellung von Schriften über arabische Bildwerke beschäftigt, für erbärmliches Honorar, denn der Direktor, eine Berühmtheit in seinem Fach, könnte es ja selber tun, wenn er ein wenig mehr Zeit hätte.) Etzel hat sich mit den Büchern zu schaffen gemacht, auf denen millimeterhoher Staub liegt, er reinigt sie, ordnet sie, beschließt, einen Katalog anzufertigen, und fragt erst nicht lang, ob es Warschauer recht sei. Er beobachtet, daß Warschauer, der weder trinkt noch raucht, eine Vorliebe für starken schwarzen Kaffee hat, den er auf einer kleinen Kochmaschine selbst bereitet. Er nimmt ihm die Verrichtung ab. Der Zufall, dessen Bündniswillen er dabei wieder anzuerkennen hat, hilft ihm weiter. Warschauer tritt sich einen Nagel in den Fuß und kann mehrere Tage das Zimmer nicht verlassen. Er hat niemand zur Bedienung (das Sonderbare ist, daß er trotz seiner elenden Umstände nicht arm oder gar bettlerhaft erscheint, es macht im Gegenteil oft den Eindruck einer Inszenierung zu irgendeinem geheimnisvollen Zweck, was freilich auf Täuschung beruht), sein Bett macht er selbst, seine Schuhe putzt er selbst. Etzel holt ihm das Mittagessen aus Frau Bobikes Küche, den kalten Abendimbiß aus einem Geschäft drüben in der Demminer Straße. Er ändert natürlich seine Tageseinteilung nach den veränderten Umständen, aber die Tage haben ja nur gewartet, von hier aus regiert zu werden. Er besorgt Verbandstoff und Lysol aus der Apotheke, wäscht die Wunde, verbindet sie sachgerecht und zeigt sich so geschickt, als hätte er unlängst einen Sanitätskurs absolviert. Die Gespräche, die sie führen, denn es ist klar, daß sie bei so angenäherter Lebensweise nicht wie zwei Klötze nebeneinander existieren können, werden immer regsamer von Etzels Seite, er wird geradezu zum unermüdlichen Schwätzer, während Warschauer sich beinahe verlegen in unzugänglichere Hintergründe zurückzuziehen scheint. Er erschöpft sich in gleisnerischen Danksagungen, gleisnerisch entsetzter Abwehr, als ob eine Person wie er solcher Guttaten, solcher Opfer in keiner Weise würdig sei. Es gibt aber Momente (Etzel kann nicht umhin, zu erschrecken, bis ins Innerste zu zittern, wenn sie eintreten, obwohl er sich gleichzeitig sagt – wie einer, der mit zusammengebissenen Zähnen in einen brennenden Ofen langt, um eine Kostbarkeit herauszuholen –, daß nichts seiner Sache förderlicher sein kann), Momente der Zärtlichkeit, die allerdings in nichts anderem besteht als in einem Betastungsversuch, einem Auffunkeln der Augen hinter den schwarzen Gläsern, dem komischen leeren Malmen des hypertrophischen Unterkiefers. Es ist Etzel zumute, als ob ein Golem aus Lehm erwache und schnaufend um sich greife, weil sich ein Appetit nach Menschenfleisch in ihm meldet. Eines Tages plaudert er in seiner halb angenommenen, halb ihm eigenen harmlosen Bubenart darüber, was er unternehmen wird, wenn er in Amerika sein wird (unter dieser Fiktion nimmt er ja bei Warschauer Unterricht). Er will zunächst Cowboy werden, sich späterhin so viel erarbeiten, daß er sich ein großes Landgut mit Wassern und Wäldern und Vieh und Wild kaufen kann, dort will er in Freiheit leben. »In Freiheit leben«, es hat in seinem Mund einen Klang von entschlossenem Enthusiasmus. Warschauer hebt den Kopf empor und läßt ein dumpfes Kichern hören. Er streckt den Arm aus, zieht den Knaben zu sich heran, so nahe, daß Etzel in einer Mischung von Abscheu, instinktivem Sträuben und zweckbewußtem, zweckbesessenem Gewährenlassen den Atem des Mannes über seine Stirn streichen fühlt, und sagt, pagodenhaft nickend: »In Freiheit leben? dort? dort in Freiheit? Junge, Junge, Junge . . .« Und lacht, gleichsam in den Eingeweiden drinnen, gallig amüsiert. Etzel reißt sich los und zuckt unwillig die Achseln. »Ich weiß schon«, knurrt er, »ich weiß schon . . . Sie . . .« und stockt trotzig, steht trotzig da und schüttelt die Haare zurück. Die Augen hinter den schwarzen Gläsern sind mit jenem Ausdruck auf ihn gerichtet, den Etzel bei sich menschenfresserisch nennt, obwohl weder etwas Grausames noch etwas Böses in ihnen ist, nur diese seltsame schlaftrunkene Lüsternheit des aufwachenden
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