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Der Fall Maurizius

Der Fall Maurizius

Titel: Der Fall Maurizius Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Jakob Wassermann
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Verzweiflung besser begreifen als ich? Bin ich doch, seit der Bub fort ist, in einem scheußlichen Zustand selber. Darüber, was Du tun sollst, werden wir sprechen. Von mir freilich kannst Du wenig Hilfe erwarten, ich bin eine unnütze Alte und nicht bloß durch diese traurige Tatsache in meiner Bewegungsfreiheit gehemmt. Dein Sohn ist der Sohn von meinem, voilà tout. Aber diesmal, Sophia, steh ich zu Dir, und soweit Mut und Kräfte reichen, will ich Dir auch bei stehen. Natürlich zittre ich bei dem Gedanken einer Begegnung zwischen Dir und Wolf. Es muß aber sein, Du hast recht. Er muß Dir Rechenschaft ablegen, vor Gott und Menschen ist er dazu verpflichtet. Du hast Dein Kind von ihm zu fordern. Wenn er Dir auch nicht wird sagen können, wo es ist, leider, so wird er sich doch verantworten müssen, wie es dahin kommen konnte, daß er es nicht weiß. Deine Freunde haben Dir nicht falsch berichtet, niemand weiß etwas über das Verbleiben unseres Jungen. Ach Gott. Ich schlafe keine Nacht mehr. Ich zerbreche mir immerfort den Kopf über das Warum und Wo. Dein Brief hat eine letzte blöde Hoffnung in mir zerstört, nämlich, daß er zu Dir geflohen sein könnte. Er sprach in letzter Zeit oft von Dir, ich aber durfte ihn nicht anhören; und was geschah? Er schwieg von Dir. Da kam ich mir erst recht wie eine unbrauchbare Scharteke vor, zu nichts gut in der Welt. Ach, nicht alt werden, oder wenn, nicht alt sein. Nach alledem wirst Du Dich um so mehr über diesen Brief wundern. Aber der Umstand, daß Du, die Mutter, erst von Fremden, nenn sie Freunde, die Fremden, fremd sind sie in dem Fall eben doch, also von Fremden erst erfahren mußtest, daß Dein Kind ihn verlassen hat und nicht mehr aufzufinden ist, war der Tropfen, der das Gefäß zum Überlaufen gebracht hat. Schön, er hat die drei Briefe ignoriert, die Du ihm in den letzten Monaten geschrieben hast, ich will es zur Not noch verstehen, aber Dir, Dir nicht mitzuteilen, wenigstens von seinem Anwalt Dir schreiben zu lassen, daß das passiert ist, was Dich ebenso angeht wie ihn und tausendmal mehr vielleicht, das ist mir zu viel – Konsequenz. Ihr zieht überhaupt so merkwürdige Konsequenzen, ihr jüngeren Leute, auch Du, mir ist ja manches unerklärlich auch an Dir, aber ich will nicht schwatzhaft werden, wenigstens nicht auf dem Papier, Du wirst es mir vielleicht erklären. Ich habe Dich jetzt neun Jahre nicht gesehen, liebe Sophia, oder sind es Gott behüte zehn? Und ich weiß nicht, was als Mensch aus Dir geworden ist, als Frau bist Du mir näher als damals, ich denke, wir werden uns ohne viele und große Worte verstehen, ich halte wenig von Worten, hingegen von Menschen, vorausgesetzt, daß sie welche sind, desto mehr. Es grüßt Dich Deine Dir wohlgeneigte Cilly von Andergast.
    Um nicht beschuldigt zu werden, daß sie hinter seinem Rücken mit der Gegnerin konspiriere, hielt es die Generalin für notwendig, ihren Sohn von dem Briefwechsel zu verständigen. Sie tat es in einem Schreiben, das wesentlich kürzer gefaßt war als das an die ehemalige Schwiegertochter gerichtete, und fügte hinzu, daß Sophia morgen oder übermorgen ankommen und bei ihr im Hause logieren werde. Ein unerwarteter Hieb für Herrn von Andergast, der ihm die Fruchtlosigkeit jahrelanger Vorkehrungen schroff vor Augen führte. Er fand den Brief der Mutter nachmittags auf seinem Schreibtisch. Er las ihn, faltete ihn zusammen, legte ihn beiseite. Er nahm ihn wieder, las ihn wieder, zerriß ihn in vier Stücke, warf ihn in den Papierkorb. Zehn Minuten später holte er die Stücke aus dem Papierkorb hervor, warf sie in den Ofen, zündete sie an und sah zu, wie sie verbrannten. Dann schritt er auf und ab, dann hob er den Hörer vom Telephon, ließ sich mit dem Justizgebäude verbinden, forderte den Direktor Günzburg zum Apparat und beauftragte diesen, den Vorsteher der Strafanstalt Kressa sofort zu benachrichtigen, daß der Leiter der Oberstaatsanwaltschaft morgen vormittag dort eintreffen werde. Ob ein Kausalnexus zwischen dem so umständlich vernichteten Brief und der amtlichen Verfügung bestand, läßt sich nur vermuten. Keinesfalls hatte Herr von Andergast für die geplante Unterredung mit dem Strafgefangenen Maurizius vorher schon einen bestimmten Termin festgesetzt. Wenn es nicht Flucht vor Sophia war, so mochte es das Gleichnis einer Flucht sein, die innere Abwehr, die er vor sich selbst durch Veränderung des Aufenthaltes demonstrierte. Wenigstens nicht da sein, wenn sie kam. Denn

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