Der Fall Maurizius
entgehen, das wußte er, konnte er ihr nicht. Diesmal mußte er sich stellen.
2
Hoch türmt sich Kressa zwischen bewaldeten Hügeln, eine uralte Burg, Stammsitz eines königlichen Geschlechts. Daß die Nationen ihren Menschenabschaum dort in Sühnezwang halten, wo die Wiege ihrer Fürsten stand, ist wie eine Schauerballade auf die Vergänglichkeit irdischen Glanzes. Das Dienstauto des Herrn von Andergast schmettert ölrauchend den steilen Hang zu dem erst jüngst angebauten Trakt hinauf, der Vorsteher Pauli wartet bereits am Tor. Er ist ein schmaler, blasser, etwa dreißigjähriger Mann mit Zwicker und blondem Schnurrbärtchen, ehemaliger Lehrer im Ort Kressa. Er empfängt den Oberstaatsanwalt und führt ihn in seinen zur Linken befindlichen Amtsraum, eine peinlich saubere Stube, Mittelding zwischen bürgerlichem Wohnzimmer mit Deckchen auf Sofa und Stühlen, Photographien an den Wänden und Kanzlei mit Aktenschrank, Schreibtisch, Telephon und Signalapparaten. Am Schreibtisch sitzt ein Schreiber, bevorzugter Sträfling, den der hohe Besuch offenbar in atemlose Erregung versetzt, denn seine Augen sind wie verglast, die Hände greifen sinnlos nach links und rechts, um Papiere zu ordnen. Herr von Andergast nimmt Platz und fordert Pauli auf, mit einer Handbewegung fast nur, ihm Bericht zu erstatten. Er sagt Herr Vorsteher zu ihm und ist in höflicher Weise trocken. Pauli erklärt, seit dem letzten Ausbruchsversuch, der sich vor zehn Tagen ereignet hat, sei Ruhe in der Anstalt, besondere Klage liege jedenfalls nicht vor. Herr von Andergast wünscht Einzelheiten über den Ausbruch zu hören, der dank der Wachsamkeit des Nachtpostens im oberen Hof mißglückt ist. Das blutlose Gesicht des Vorstehers rötet sich schwach, es ist die Erinnerung an das betrübende Vorkommnis, an die Schande, in die es einen bringt, das schlechte Ansehen bei den Herren der Vollzugsbehörde und schließlich der Gedanke, daß man keinen Tag vor der Wiederholung sicher sein kann. Es gibt nur eines, das noch schlimmer ist und in den Folgen unheilvoller, die offene Revolte. Auch das hat man gehabt. Es scheint unvermeidlich. Nach zwei, drei Monaten friedlichen Auskommens ballt sich regelmäßig eine Katastrophe zusammen. Man tut für die Leute, was irgend möglich ist, sie haben ihre ordentliche Kost, ihre bemessene Schlafzeit, ihren Gottesdienst, ihre Erholungsruhe, man geht anständig mit ihnen um, verschafft ihnen Erleichterungen, wo es nur angeht, und doch, sie haben keine Einsicht, sie lassen nicht ab von Verschwörungen und strafbaren Verständigungen. Das alles malt sich in den Zügen des jungen Vorstehers, während er die Geschichte des letzten Ausbruchskomplotts erzählt, eine reizlose und trübselige Geschichte, die nur dadurch einige Verwunderung verdient, daß es den Leuten, es waren die vom Schlafsaal zwölf, in zwei Nachtstunden gelungen ist, die fünfundsiebzig Zentimeter dicke Mauer geräuschlos zu durchbrechen, ein Loch herzustellen, durch das sie bequem schlüpfen konnten, und sich an Bastseilen, die sie aus den Arbeitssälen nach und nach entwendet und im Schlafsaal versteckt hatten, unbegreiflich wie und wo, aus einer Höhe von dreiundzwanzig Meter herunterzulassen, fünf Mann. »Es war sinnlos, es war aussichtslos«, sagt der Vorsteher mit seiner leisen traurigen Stimme und niedergeschlagenen Augen, »denn dort hatten sie ja wiederum dreißig Meter Kletterei vor sich, und dazu waren die Seile nicht lang genug, sie hätten die letzten fünf Meter springen müssen. Einfach toll.«
Und sonst? erkundigt sich Herr von Andergast vorsichtig, wie um die Empfindlichkeit des Mannes zu schonen. Soviel er wisse, seien ein paar schwierige Leute hier. Ja, gewiß, gab Pauli resigniert zu. Da sei vor allem Hiß, der Mörder des Gendarmeriewachtmeisters Jänisch, der Herr Baron werde sich ja entsinnen, nächtlicher Überfall auf der Straße. Mit dem habe man seine Not, der Mann sei auf keine Art zu bändigen und ans Reglement zu gewöhnen, man habe ihn nun sechs Wochen im Hause, und jeden Tag melde er sich zu einer grundlosen Beschwerde, sei drei Monate in Dietz gewesen, dort habe er Bittschriften über Bittschriften eingereicht, er wolle weg, halte es nicht aus, bis man ihn endlich nach Kressa verbracht, und nun wolle er um jeden Preis wieder nach Dietz zurück. Er sei von einer krankhaften Arbeitsscheu beseelt, sein einziges Verlangen sei, zu schreiben, seine Lebensgeschichte wolle er niederschreiben und damit zugleich den Beweis seiner
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