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Der Fall Maurizius

Der Fall Maurizius

Titel: Der Fall Maurizius Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Jakob Wassermann
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entschlossen mit seiner Umgebung und dem Herkommen brach, solche waren ja auch da, der wurde langsam eingesponnen und zugedeckt, er mußte nur sehen, daß er sich dann mit seinen finstern Stunden abfand. Da war dann freilich das Leben entsetzlich abgewelkt, eine dunkle Spannung beherrschte einen, es war, als hätte man sich die Seele vermauern lassen und hätte nichts zum Entgelt dafür bekommen als das bißchen schäbige Karriere und die paar Freunde, an die man sich mit allen Herzenskräften klammerte. Das Edelkorn war in die eigene Natur so zufällig hineingesprengt, ohne Zusammenhang, das war dann ›romantisch‹, eine Kategorie für sich, eine Religion beinahe, und man konnte ›romantisch‹ sein und dabei recht wenig Gewissen haben. Ich weiß noch, daß ich mit neunzehn Jahren von einer Tristanaufführung als seliger neuer Mensch nach Hause ging und zu Hause meinem Vater zwanzig Mark aus der Kommode stahl. Beides war möglich. Immer war beides möglich. Daß man einem Mädchen heilig schwor, sie zu heiraten, um sie kurz darauf niederträchtig ihrem Schicksal zu überlassen, und daß man in feierlicher Stimmung Buddhas Leben und Worte in sich aufnahm. Daß man einen armen Schneidermeister um seinen Lohn prellte und vor einer Raffaelschen Madonna in Verzückung stand. Daß man sich im Theater von Hauptmanns Webern erschüttern ließ und mit Genugtuung in der Zeitung las, daß auf die Streikenden im Ruhrgebiet geschossen wurde. Beides. Immer war beides möglich. Romantik. Romantik ohne Boden und ohne Ziel. Da haben Sie noch ein Porträt. Selbstporträt. Finden Sie, daß es schmeichelhafter ist als Ihres; Es hat nur das Versöhnliche, daß es in jedem Fall wie gesagt zwei Möglichkeiten zuläßt. Ihres ist grausam unverrückbar, es läßt nur eine zu.«
    Angesichts dieses leidenschaftlich bohrenden Bekenntnisdrangs, der einen ganzen Lebensinhalt zum Strömen brachte, wie wenn ein Stauwehr bricht und das Wasser über die Ufer spült, überkam Herrn von Andergast auf einmal eine Regung feiger Scheu, die Angst vor einer Wahrheit, die zu suchen man sich eingeredet hat und die nicht zu finden dabei die stille Hoffnung ist. Derlei Geistesverfassungen sind nicht allzu selten. Sie sind das Miniaturbild der Epochen, in denen »beides möglich ist«, wie der Sträfling Maurizius es formuliert hatte, nur ging er vermutlich darin irre, daß er sie ausschließlich für die Epoche seiner Generation in Anspruch nahm. Oder war es nur Ausfluß des hintergründigen Sarkasmus, den Herr von Andergast bereits mit soviel Unbehagen verspürt hatte? Kaum. Da kauerte ein zerfleischter Mensch, lechzend nach Mitteilung, mit fiebriger Gier nach Gehör verlangend, willig sich auszuschütten, sich hinzudehnen, zu zeugen, zu wissen, zu sagen, aus dem Formlosen seiner zermalmenden Einsamkeit wieder in die Kontur zu gerinnen. Herr von Andergast sagte ausweichend, aufs Geratewohl in eine neue Stille hinein: »Ganz richtig. Es war mir auch nur eine einzige Möglichkeit gelassen.« Maurizius hob den Kopf und starrte ihn an, mit einem wüsten Ausdruck im Gesicht. »Und wenn Ihre Voraussetzung falsch wäre?« fragte er von unten herauf, lauernd. Herr von Andergast versetzte schroff: »Das ist undenkbar.« – »Undenkbar? Köstlich. Ich frage ja nur: wenn –? Auch das Wenn können Sie sich nicht denken? Wenn sie aber doch falsch wäre?« – »Scheint es denn Ihnen denkbar?« – »Vielleicht.« – »Warum haben Sie dann geschwiegen? Während der Voruntersuchung, bei der Verhandlung, im Strafhaus geschwiegen, achtzehneinhalb Jahre?« – »Soll ich Ihnen sagen, warum?« (Wieder das düstere Lauern, von unten herauf.) – »Ich bitte.« – »Weil ich nicht einen Mord begehen wollte.« – »Wie . . .? Wie das? Weil Sie . . . ich verstehe nicht.« – »Gott verhüte, daß Sie es verstehen.« (Leises, spöttisches Lachen.)
    Herr von Andergast, ziemlich ratlos, zog mechanisch die Uhr, ließ mechanisch den Deckel springen. Zwei Minuten vor fünf.
    8

    Plötzlich sprang Maurizius auf. »Unsinn«, stieß er hervor, »was quatsch ich denn da? Vergessen Sie das verdammte Geschwätz. Ich wollte Sie nur aushorchen. Es ist ein Gedanke, mit dem ich manchmal gespielt habe. Ich darf nicht laut denken. Hoffentlich halten Sie es nicht für ernst.« Er stand mit eingedrückten Schultern da. Herr von Andergast, als wolle er den Aufgeregten beschwichtigen, bemerkte ruhig, es handle sich ja nicht um Protokollaufnahme, er wisse zwischen Geständnis, auch dem Schatten

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