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Der Fall Maurizius

Der Fall Maurizius

Titel: Der Fall Maurizius Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Jakob Wassermann
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einem langsamen Hinsiechen, dem sie in der Fremde verfallen war. Alle Macht war in seiner Hand; er hatte sich der Macht bis zum Äußersten bedient, natürlich unter gewissenhafter Beobachtung des Gesetzes, das auf seiner Seite war. Ob die Generalin für Sophia von Andergast vor der Scheidung irgendwelche Sympathie gehegt, steht dahin, nachher jedenfalls und als sie schon längst die Stadt verlassen hatte, sprach sie mit unverhohlenem Mitgefühl von ihr, ja, eines Tages ging sie so weit, sich im Salon einer ihrer Bekannten über die Grausamkeit zu entrüsten, die darin lag, eine Mutter von jeglicher Verbindung mit ihrem Kind abzuschneiden und eine so erbarmungslose Maßregel unabänderlich, unappellabel zu machen. Die Anwesenden wußten nicht, wohin sie schauen sollten, es war ein kleiner Skandal, hervorgerufen allerdings durch die taktlose Bemerkung eines jungen Referendars, der, entweder aus schäbigem Servilismus oder weil er ein geborener Strammsteher war, die »Schneidigkeit« des Herrn von Andergast nicht genug rühmen konnte. Natürlich war von der Affäre manches in die Öffentlichkeit gedrungen und hatte zu dem üblichen Geklatsch Anlaß gegeben. Besonders über den Ausdruck »Schneidigkeit« geriet die Generalin vor Zorn fast außer sich; nachdem sie in aufrechter Haltung und mit blitzenden Augen ihre Meinung gesagt, raffte sie ihren Schal und ihr Täschchen zusammen und verließ eilig die verdutzte Versammlung, die sich lange Zeit nicht schlüssig werden konnte, ob man die alte Dame wegen ihres moralischen Mutes beloben oder wegen ihrer Verschrobenheit belächeln sollte. Zwei Tage später machte Herr von Andergast seiner Mutter einen Besuch. Ohne daß von dieser Szene oder von einer sonstigen Äußerung oder von der Scheidung oder von Sophia die Rede war, erhielt er von der Generalin nach kurzer Auseinandersetzung das feierliche Versprechen, daß sie vor ihrem Enkel Etzel niemals den Namen seiner Mutter erwähnen und über deren Existenz unbedingtes Schweigen bewahren werde. Es war ein Triumph seiner Taktik. Er hatte sie bei dieser Gelegenheit dermaßen eingeschüchtert, daß sie das Versprechen bis zum heutigen Tage nicht gebrochen hatte, so schwer es ihr auch manchmal gefallen war, wenn der bezaubernde Junge zu ihren Füßen saß und vertrauensvoll plauderte und fragte.
    Etzel als Sonntagsgast bedeutete: schöngedeckter Tisch in wohldurchheiztem Zimmer. Für sich allein machte die Generalin keine Umstände; manchmal vergaß sie überhaupt zu essen, gegen Abend verspürte sie dann Hunger und schickte das Mädchen, das sie statt zum Kochen dazu verwendet hatte, von der Leinwand ihrer alten Bilder die Farbe abzukratzen, über die Straße nach ein paar belegten Brötchen, die sie im unermüdlichen Herumtrippeln unter leisen Monologen und Geträller verzehrte. Für Etzel war die Großmutter eine reizvolle Erscheinung. Sie hatte nach seiner Ansicht mehr »Geheimnis« in sich als die Mehrzahl der Menschen, mit denen er in Berührung kam. Was er Geheimnis nannte, war ihm ein Wertmesser für Menschen. Jeder, auch der Geringste, der Langweiligste, hatte etwas Verborgenes und schlechthin Unerforschliches, das im selben Augenblick zu wirken begann, wo er aus Etzels Gesichtskreis entschwand. Er grübelte dann darüber nach: was tut er jetzt, seinem »Geheimnis« überlassen! Besonders gab ihm das Alleinsein der Menschen zu denken. Wie benahm sich der oder der, wenn er allein war, wie sah er aus? Man konnte es nie erfahren, schon das Auge, das ihn sah, hob den rätselhaften Zustand auf, indem es ihn sah. Von Trismegistos zum Beispiel machte sich Etzel das Bild, daß er mit einem Zirkel große Kreise auf einem Zeichenblatt zog; und die Kreisflächen mit Ziffern bedeckte. Von der Großmutter konnte er sich vorstellen, daß sie, die Gesetze der Schwere und der Statik verspottend, auf dem Plafond herumging, mit den Füßen nach oben, oder, wenn sie im Freien und natürlich von keinem Auge beobachtet war, wie ein Luftballon zierlich emporschwebte. Das war eben ihr »Geheimnis«, das Unerforschliche an ihr.
    6

    Gegen Ende der Mahlzeit rückte Etzel mit der Frage heraus, die er an die Großmutter stellen wollte. Er hatte den Mann mit der Kapitänsmütze seither nicht wiedergesehen, aber seine Gedanken beschäftigten sich deshalb nicht weniger häufig mit ihm. Es war nur nicht anzunehmen, daß gerade Großmutter den Namen kannte. Verwechselte sie doch die meisten Namen, sogar die von Familien, bei denen sie verkehrte,

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