Der Fall Maurizius
diesem Kinde habe angedeihen lassen, Frucht des Verhältnisses zwischen dem Schwager und einer fremden Frau. Maurizius will antworten, preßt die Lippen zusammen, schweigt, und ein scheuer Blick streift sein Gegenüber. Dann: »Nicht so unerklärlich, wenn man bedenkt, was sie schon erlebt hatte und was sich dann abspielte, als sie zu uns kam. Davon ahnt ja niemand was.« – »Allerdings«, gibt Herr von Andergast zu, »was wir erfahren haben, ist so äußerlich wie der Bericht eines Unglücksfalles in einer Zeitung. Die Wirklichkeiten liegen wohl dahinter.«
Lange schaut Maurizius stumm vor sich nieder. Sein Kopf macht nervöse Ruckbewegungen, als ob er eine unbequeme Annäherung abwehren wolle. Es sind aber nur Schatten. Er verkehrt mit Schatten, er befragt Schatten, er ringt mit Schatten. Endlich hebt er die Augen, blickt dem Oberstaatsanwalt prüfend ins Gesicht und sagt mit einer Stimme, die aus speichellosem Gaumen kommt: »Ich will versuchen, es zu erzählen. Ich glaube, es ist ganz gut, wenn ich es mal erzähle. Bis zu einem gewissen Punkt kann ich's immerhin riskieren. Schon um es selber mal zu hören. Um zu sehen, was noch davon da ist. Aber nicht heute. Ich bin zu erschöpft von dem Bisherigen, hab mich nicht mehr in der Gewalt. Morgen. Am besten ganz in der Frühe.«
Herr von Andergast nickt und erhebt sich. An der Zellentür gibt er das Zeichen, der Wärter öffnet. Es ist halb acht, als er das Gasthaus in Kressa betritt und ein Zimmer für die Nacht fordert. Sophia muß warten, denkt er in einer Mischung von Triumph und Furcht, während er am Fenster der Wirtsstube sitzt und zu der grauen Gefängnis-Zwingburg emporstarrt. Aber es ist ein flüchtiger Gedanke, dem keine rechte Bedeutung mehr innewohnt. Alle Gedanken sind nun flüchtig und bedeutungslos, die den Kreis verlassen, in dem der Sträfling Maurizius steht.
Zehntes Kapitel
1
Etzel begriff natürlich sofort, daß er sich in eine gefahrdrohende Situation begeben hatte. Gut, daß ich endlich seine Augen sehe, dachte er, während er sich vorsichtshalber in eine etwas entfernte Gegend des Zimmers zurückzog, sie sind nicht angenehm, die Augen, er hat alle Ursache, sie zu verstecken. Woran erinnern sie einen nur, an Lurche oder sonst was Scheußliches, pfui Teufel. Er war blaß vor Spannung, wie sich die Sache weiterentwickeln würde. Daß er nicht im Vorteil war, lag auf der Hand. Er hatte das Visier geöffnet, jener nicht. Daß sie heute noch in die Versammlung am Stettiner Bahnhof gehen würden, war wohl ausgeschlossen. Jetzt hatten sie an anderes zu denken, alle beide.
Langsam setzte Warschauer die Brille wieder auf die Nase. »Sonderbar«, murmelte er gedehnt, mit einem Ausdruck, als bohre er mit den Augen einen Tunnel in eine völlig verschüttete Vergangenheit. Dabei musterte er den Knaben unausgesetzt. »Ich hab Wurst und Sprotten gebracht«, sagte Etzel mit einem nicht recht glückenden Versuch, unbefangen zu sein, und deutete auf das Päckchen, das noch auf dem Sims lag, »Brot ist in der Tischlade, Butter auch, glaub ich, wollen Sie nicht essen?« Warschauer räusperte sich. »Schließen Sie das Fenster, Mohl«, sagte er schullehrerhaft, mit eigentümlich hämmernder Stimme, »es wird kühl.« Etzel tat, wie ihm geheißen, ein Nachtfalter flatterte in sein Gesicht, während er die Fenster zumachte. Hoch über den Dächern zuckte es im roten Dunst wie von Scheinwerfern. Inzwischen hatte er wieder Mut gefaßt, er nahm das Eßpaket, schnürte es auf, trat zum Tisch, holte zwei Teller und den Brotlaib aus der Lade, legte geschäftig ein blaukariertes, ziemlich schmutziges Tischtuch auf, klapperte mit Messer und Gabel und stellte den Schnellsieder für den Kaffee bereit. Warschauer sah ihm eine Weile schweigend zu, ging dann in den Alkoven, ließ die Schiebetür offen und wusch sich mit der gewöhnlichen Umständlichkeit die Hände. Als er wieder zurückkam, spielte sich folgendes ab:
Er setzte sich, begann mit in sich gekehrter Miene lustlos zu essen. Etzel, der sich immer mehr den Anschein der Munterkeit gab, als hätte er den unheimlichen, kleinen Wortwechsel längst vergessen, zündete den Kocher an und löffelte den gemahlenen Kaffee auf ein Brettchen. Dabei zählte er laut: eins, zwei, drei. Während des Zählens machte ihm der Gedanke das Herz schwer, daß er bis jetzt noch nicht den leisesten Beweis dafür hatte, daß dieser »Professor« Warschauer und Gregor Waremme ein und dieselbe Person war. Er hatte sich lediglich auf die
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