Der Fall Maurizius
»Glaub ich gern. Was wird denn bekannt? Sogar ein Mann wie Sie würde ziemlich entsetzt sein, wenn er wüßte, was alles nicht bekannt wird. Dem Herrn Oberst wär's beinahe gelungen, mir mit seinen talentvollen Quälereien den Garaus zu machen, wer hätt ihn daran verhindern sollen, wenn ihn nicht vorher noch der Schlag gerührt hätte. Sonst konnte ihn ohnehin nichts auf der Welt rühren. Es stand eben nicht in den Sternen, daß ich sein Opfer werden sollte. Na, schön, dann hab ich wieder Seegras gezupft, Schachteln geklebt, Baststricke gedreht, Matten geflochten und, das ganze Jahr sechzehn, Knöpfe an Militärmäntel genäht.« – »Ich würde großen Wert darauf legen, wenn Sie sich entschließen könnten, eine Art Selbstbiographie abzufassen. Ich verspreche mir viel davon. Es käme unter Umständen der Absicht zustatten, die ich zu Beginn unseres Gesprächs angedeutet habe. Ich würde dem Vorsteher entsprechende Befehle geben, Sie könnten auf alle Erleichterungen rechnen . . .« Maurizius macht ein Gesicht, als suche er die Falle hinter dem Anerbieten. Er schüttelt den Kopf. »Mein Leben ist ein ausgebrannter Stamm«, erwidert er; »was hat es für einen Zweck, am Aschenstumpf die Jahresringe zu zählen oder wehleidige Betrachtungen darüber anzustellen, wie hoch mal die blühende Krone geragt hat? Nein.« – »Mißverstehen Sie mich nicht, ich will keinerlei Pression ausüben«, versichert Herr von Andergast mit einem Ernst, der gewissermaßen eine neue Auffassung der Lage signalisiert, über die er sich gedanklich erst Rechenschaft geben muß, »nicht einmal mehr um Geständnisse ist es mir zu tun, wie ich zu den Dingen momentan stehe . . .« – »Sondern?« – Herr von Andergast, den Kopf zwischen die Schultern ziehend, macht eine Bewegung mit den Armen, als wolle er, ohne Rücksicht auf die Folgen, die Unsicherheit enthüllen, in die er geraten ist. Nichts könnte nachhaltigeren Eindruck auf Maurizius üben als diese stumme Verzichterklärung. Wenn es nicht wirklich eine Sorte von Kapitulation gewesen wäre, unvorgesehen, vom Augenblick erzwungen, dem hoffnungslosen Herumirren im Kreis, wäre es ein genialer Schachzug gewesen.
Maurizius' Gesicht wird noch fahler, als es für gewöhnlich schon ist. Es hat den Anschein, als könne er über etwas, das ihn maßlos quält oder etwas, was er tun und sagen möchte und nicht tun und sagen kann, nicht mit sich einig werden. Seit Jahr und Tag ist dies der erste Besuch von »draußen« in seiner Zelle, seit Jahr und Tag der erste Mensch, der in seiner Sprache mit ihm spricht. Millionenfach sich kreuzende Empfindungen stürmen in wenigen Sekunden auf ihn ein. Unmöglich, eine einzelne festzuhalten, jede Regung wird von einer stärkeren, dunkleren, bangeren, wilderen fortgeschwemmt. Wie einer, der auf eine wüste Felseninsel deportiert seit ungemessener Zeit sich nach einem Menschenauge sehnt und nach Mitteilung schmachtet, zu vergessen fähig ist, daß der, der ihm endlich als seinesgleichen entgegentritt, derselbe ist, der ihn verdammt und ausgesetzt hat, so zittert, so fiebert er bloß nach der physischen Nähe, nach Wort und Botschaft. Botschaft geben, Botschaft haben, es ist beinahe eines, im Austausch ringt er sich vielleicht wieder empor aus der schauerlichen Geisteskrankheit, zu der ihm das Nur-mit-sich-selbst-Sein geworden ist. Setzen Sie sich doch, hört er sagen, und er setzt sich, gehorsam, eilig, wie hingeschmissen. Seine Augen, voll unsinniger Traurigkeit, haben die Phosphoreszenz, die den seelischen Verwesungsprozeß anzeigt. Noch drei, vier Monate, und der letzte innere Funke ist erloschen, die beispiellose Energie, mit der er bis zur Stunde dagegen angekämpft hat, verbraucht. Der Mensch, der als Mensch zu ihm redet, gibt ihm wieder den Menschenbegriff, spannt ihn noch einmal in einen Rahmen von Dasein. Es reicht dann wieder für ein Jahr, er muß sich an ihn klammern, muß ihn verstricken, ihm eine Tür zu sich öffnen, und was er hierzu an armseliger List aufwendet, verhüllt nur schlecht sein irres Verlangen. Da fällt der Name Anna Jahn. Es sei Maurizius zweifellos bekannt, daß Anna Jahn geheiratet habe? Antwortet er? Er hat bereits geantwortet, als er sich noch zu besinnen scheint. Vor acht Jahren hat er es erfahren. Auf die Frage, ob ihm die Nachricht unerwartet gewesen sei, an seinen Gefühlen etwas verändert habe, lacht er. Oder war es kein Lachen, nur ein verunglückter Versuch, Vergessenhaben vorzutäuschen? Jedenfalls war der Name
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