Der Fall Maurizius
auftischen ließ, als wenn er einen mit Gedichten und Ideen bewirtete, unerschöpflich. Man konnte Nächte und Nächte in seiner Gesellschaft verbringen und wurde nicht müd, von Schlaf war keine Rede. Unfaßlich war der Mensch, ich bin überzeugt, daß solch ein Mensch nur alle hundert Jahre einmal erscheint, genau wie ein Kepler oder ein Schiller, und ich bin gleichzeitig überzeugt, daß er der Teufel war. Ja, schlechthin der Teufel. Stichhaltigere Gründe als ich kann keiner für diese Überzeugung haben. Das Böse, müssen Sie wissen, das wirklich Böse, ist ungeheuer selten auf der Welt, noch seltener als Kepler und Schiller, viel seltener. Nun, ich will Sie nicht langweilen. Sie werden sagen, das sind mystische Faseleien, und der Teufel ist lang genug die letzte Ausrede aller Verdammten gewesen. In dem Jahr, von dem ich spreche, lebte der Geheimrat Bringsmann noch, der Literarhistoriker, ein Mann, den wir alle verehrten, dort traf man jeden Freitag die beste Gesellschaft, und man konnte höchst angenehme und lehrreiche Stunden verbringen. Der Geheimrat war einer der größten Bewunderer Waremmes, in seinem Haus wurde er geradezu gefeiert und auf Händen getragen. Am ersten Freitag des neuen Jahres, es war der Dreikönigstag, hatten sich besonders viele Leute eingefunden, Waremme hatte dem Geheimrat versprochen, den Gorgias vorzulesen, dessen Übersetzung er eben beendigt hatte. Fast alle Professoren und ihre Damen waren gekommen, es war eine illustre Zuhörerschaft. Als ich mit Elli und Anna in den nicht sehr geräumigen Salon trat, hatte die Vorlesung bereits angefangen, und wir fanden sämtliche Stühle besetzt. Von der Vorlesung selbst ist eigentlich nichts zu berichten, nur fiel mir auf, daß sich Waremme, als wir kamen, ein paar Sekunden lang unterbrach und einen zornigen Blick zu uns herübersandte, offenbar, weil wir uns verspätet hatten. Er war in solchen Dingen ungemein pedantisch, das heißt, damals schrieb ich es seiner Pedanterie und seiner Herrschsucht zu, es war aber auch rasende Eitelkeit im Spiel, und man bekam es nachher immer zu fühlen, wenn man diese Eitelkeit gekränkt hatte. Ich weiß nicht mehr, ob meine Frau oder Anna an der Verspätung schuld war, Anna jedenfalls war so nervös darüber, daß sie auf der Stiege auf ihren Kleidsaum trat und dann noch extra eine Verzögerung herbeiführte, weil sie das losgerissene Stück mit Stecknadeln befestigen mußte. Dabei war sie totenbleich vor Aufregung, und ihre Hände zitterten. Waremme wurde mit Beifall und Anerkennung überschüttet, alle drängten sich um ihn, er schien sehr gehoben und noch gesprächiger und anregender als sonst. Ich merkte aber, daß er sowohl mich wie auch Anna geflissentlich schnitt, mit Elli stand er ja ohnehin nicht gut, ich dachte mir noch: das heißt die Rache für einen geringen Verstoß ein wenig zu weit treiben. Unter den Gästen befand sich auch ein junger Heidelberger Professor, der vor kurzem eine Schrift über die Shakespeareschen Sagenstoffe veröffentlicht hatte. Waremme kannte die Arbeit und hatte sich bei der Lektüre über einige unverständige Urteile geärgert; wir hatten erst ein paar Tage vorher darüber gesprochen, namentlich die abfälligen Äußerungen über ›Maß für Maß‹ hatten ihn verdrossen, denn dieses Stück hielt er ganz besonders hoch. Er ließ die Gelegenheit nicht vorübergehn, sich mit dem Verfasser auseinanderzusetzen, und trieb ihn schließlich dermaßen in die Enge, daß der arme Mann nichts mehr zu sagen wußte und vielleicht am liebsten um Absolution gebeten hätte. Die Debatte hatte allgemeine Aufmerksamkeit erregt, alle übrigen Unterhaltungen waren verstummt; berauscht von seinem Erfolg, von den bewundernden Blicken und von einer heimlichen Absicht noch, die ich aber erst später halb und halb durchschaute, riß er die Versammlung durch eine seiner berühmten Bravourleistungen hin. Nach einer scharmanten, kurzen Anrede nämlich trug er aus dem Gedächtnis die ganze Schlußszene des zweiten Aktes vor, das herrliche Gespräch zwischen Angelo und Isabella, wo er ihr das Leben ihres Bruders verspricht, wenn sie sich ihm hingibt. Es ist mir unvergeßlich, mit welchem Ausdruck, mit welcher Gewalt er das brachte und steigerte, wie ein großer Schauspieler, und doch nicht wie ein Schauspieler, wie einer, der es lebt, im Augenblick erlebt. Herr, glaubt mir das, eh gäb ich meinen Leib als meine Seele . . . und wie Angelo antwortet: Von Seele red ich nicht, erzwungene Sünden sind
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