Der Fall Maurizius
verstehen recht.« – »Und die Jahn wußte es bereits, als Sie ihr die Sache mit dem Kind beichteten?« – »Ja. Da wußte sie schon, daß er sie aufgespürt hatte.« – »Wie . . . aufgespürt? Er hat sie also quasi verfolgt?« – »Wenn auch nicht verfolgt, so doch nach ihr gesucht. Daß sie sich bei uns aufhielt, konnte er leicht in Erfahrung bringen.« – »Gewiß. Aber welchen Grund hatte sie denn, sich vor ihm zu verbergen, sogar ihn zu fürchten?« – Maurizius schwieg. Herr von Andergast fuhr fort: »Schön, ich nehme an, sie hatte Grund, den allertriftigsten Grund, will ich annehmen, obwohl ich mir nichts dabei vorstellen kann; weshalb packte sie dann nicht die Gelegenheit beim Schopf, die Sie ihr boten? Weshalb kam sie zurück? Ein plausibler Vorwand, im Ausland zu bleiben, hätte sich doch unschwer finden lassen, sie hätte Ihnen zum Beispiel nur schreiben müssen, das Kind sei krank, oder Mrs. Caspot sei abwesend oder nicht verläßlich. Sie hätten sicher nichts dagegen eingewendet, wenn sie ihre Rückkehr ins Unbestimmte verschoben hätte. Damit hätte sie ja wieder Zeit gewinnen können, viel Zeit, und auf die unauffälligste Art.« – »Sehr scharfsinnig. Aber das konnte sie nicht.« – »Warum nicht?« – »Weil . . . weil sie verfallen war.« – Herr von Andergast sah ungläubig aus. »Verfallen? Ihm verfallen? Ach, gehn Sie doch zu. Das kommt doch nur in Boulevarddramen vor. Eines von der Sorte machte damals Furore, Sie erinnern sich vielleicht auch daran, Trilby hieß es, ein trauriger Schund, da kam ein gewisser Svengali vor, auch so ein Hexenmeister. Das sind Räubergeschichten, wissen Sie, ich wenigstens habe mich nie überzeugen können, daß im wirklichen Leben dergleichen passiert. Verfallen . . . erklären Sie das doch deutlicher.« – Maurizius schüttelte ohne aufzublicken den Kopf. »Erklären läßt sich da nichts. Räubergeschichte? Mag sein. Ja, das Schauspiel Trilby hab ich mal gesehn. In solchem Kehricht liegen manchmal Zeitwahrheiten.« – »Auf welche Weise haben Sie denn Waremme kennengelernt? Durch die Jahn nicht, soviel ich aus den Akten weiß . . .« – »Nein, nicht durch Anna. Ein paar Tage vor ihrer Rückkehr begegnet mir Herr von Buchenau auf der Straße, hält mich an und sagt: Dr. Maurizius, heute müssen Sie zum Tee zu uns kommen, es wird ein Mensch da sein, so was haben Sie noch nicht erlebt, ein Polyglott, ein neuer Winckelmann, ein Poet, ein Kerl von Gottes Gnaden. Genau das waren seine Worte. Da ich Buchenau als fischkalten Skeptiker kannte, den noch niemand begeistert gesehen hatte, wurde ich neugierig und ging hin. Und wirklich, so was hatte ich noch nicht erlebt.« – »Von seiner Beziehung zur Jahn wußten Sie zu der Zeit noch nichts?« – »Nein. Am Sonntag darauf, es war der siebenundzwanzigste November, sah ich ihn mit Anna auf der Parade. Er begrüßte mich sehr empressiert, beide blieben stehen, und ich ging mit.« – »War es gleich von da an, daß sich der freundschaftliche Verkehr zu dreien entwickelte?« – »Ja.« – »So muß sich also die anfängliche Apprehension der Jahn, um das unverfänglichste Wort zu gebrauchen, nach und nach gelegt haben? Es war wohl mehr eine Laune, eine Hysterie?« – »Ach, du großer Gott«, murmelte Maurizius. Herr von Andergast blickte ihn gespannt an, Maurizius schob den Zeigefinger in den Halskragen, als fehle ihm die Luft zum Atmen. – »Oder hatten Sie den Eindruck, daß sich etwas . . . etwas Entscheidendes zwischen ihnen ereignet hatte?« – »Allerdings«, erwiderte Maurizius mit einer ausgebluteten Stimme, »allerdings. Etwas fürchterlich Entscheidendes.« Er hielt sich an der Tischplatte fest, Herr von Andergast wartete. Wunderlicherweise fühlte er sein Herz heftig schlagen. »Etwas . . .« fuhr Maurizius fort, »allerdings . . . es«, plötzlich wurde die Stimme kalt und fest: »Sie war nämlich von ihm vergewaltigt worden.« – Herr von Andergast sprang auf. »Na, hören Sie, Mann«, rief er und verlor zum erstenmal die Selbstbeherrschung, »das . . . das ist hirnrissig . . . das haben Sie halluziniert . . .« – »Sie war von ihm als Siebzehnjährige vergewaltigt worden«, sagte Maurizius steinern, mit den Fingern die Tischplatte so krampfhaft umklammernd, daß die Knöchel weiß wurden.
Aus dem Hof drang ein schnarrendes Kommando herauf. Das Hämmern, das in der letzten halben Stunde ausgesetzt hatte, begann von neuem. Unter dem lichtblauen Morgenhimmel zog ein Flug Schwalben
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