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Der Fall Maurizius

Der Fall Maurizius

Titel: Der Fall Maurizius Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Jakob Wassermann
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veränderten Ton fort, den er heute gegen den Sträfling angenommen hatte, einem Ton, aus dem unverkennbar herausklang: ich spreche von Mann zu Mann, von gleich zu gleich, und der Maurizius aufhorchen ließ, als lausche er der mühsam unterscheidbaren Stimme aus einem fernen Gemenge, »eine einzige Frage. Wenn Sie für gut finden, nicht zu antworten, werde ich Ihr Schweigen verstehen. Es könnte ja auch nur eine einzige Deutung haben.« – Maurizius sah in die Luft. »Bitte«, flüsterte er. – »Würden Sie Ihre auf dem Gnadenweg verfügte Entlassung annehmen, ohne weitere Schritte ins Auge zu fassen? Ihr Wort würde mir genügen.«
    Über Maurizius' ausgestreckten Körper läuft ein elektrisches Beben. Die vertrockneten Lippen pressen sich zusammen. Er kann nicht reden. Ein rasender Tanz verworrener Bilder durchtobt sein Hirn. Er möchte etwas schreien. Er kann nicht schreien. Er möchte sein Gesicht mit den Händen bedecken. Er vermag es nicht. Er hat das Gefühl, daß sein Rumpf ein Bleiklumpen ist und sein Herz ein scheppernder Motor, der gleich stillstehn wird. Herr von Andergast begreift. Mit sonderbarer Schüchternheit legt er seine Hand auf Maurizius' Arm. Er sagt: »Ich biete Ihnen, was zu bieten möglich ist. Sie haben noch eine Zukunft vor sich. Sie dürfen sie nicht um eines Phantoms willen von sich werfen.« – Maurizius' Gesicht verzerrt sich. »Phantom? Phantom, sagen Sie? Zukunft ohne dieses . . . dieses Phantom? Zukunft . . . mit dem da drinnen (er deutet mit dem Zeigefinger auf seine Augen) und mit dem da drinnen (er schlägt mit der flachen Hand auf seine Brust) . . . Zukunft!« – Herr von Andergast spricht ihm zu wie einem eigensinnigen Kind: »Sie müssen sich abfinden. Das Leben ist eine gewaltige Macht. Ein Strom, der Unrat und Gift filtriert. Denken Sie an die Freiheit . . .« (Banal, hoffnungslos banal, geht es ihm durch den Kopf, voll Zorn gegen die Verbrauchtheit und Zerlaugtheit der Worte.) Wieder rinnt das Beben über den ausgemergelten Leib des Sträflings. Er murmelt: »Freiheit . . .ja . . . o Gott . . . Freiheit . . .« Seine Augen werden naß. – »Nun, sehen Sie . . .«, sagt Herr von Andergast bewegt. (Er hat plötzlich das Gefühl des Wohltäters, des wirklichen Freundes, das bewegt ihn, er vergißt, daß das Almosen nicht einmal den Rang eines Geschenkes hat, er spürt nicht, daß es ein Spott und ein Hohn ist.) Maurizius liegt schweigend da. Es vergehen fünf Minuten, er regt sich nicht. Endlich beginnen seine Lippen zu zittern, und er fängt an, vor sich hinzusprechen.
    7

    »Ihr wißt es nicht. Es kann sich's niemand auf der Welt auch nur im entferntesten vorstellen. Die Einbildungskraft eines jeden Menschen verhält sich da wie eine störrische Kuh. Es reicht nichts hin, was man sagt und was draußen davon bekannt ist. Manche meinen, sie hätten's erfaßt, weil sie sich in gewisse Bilder eingelebt haben, die auf die Phantasie wirken. Sie haben nicht einmal den Zipfel erfaßt. Manche sagen wieder, es ist gar nicht so schlimm, jedes Individuum paßt sich an seine Bedingungen an, Gewöhnung ist alles, die Zustände werden von Jahr zu Jahr besser, die Gesetzgebung beugt sich dem Geist der Zeit, und dergleichen mehr. Ahnungslos. Alles Unrecht und Leiden der Erde hat seinen Grund darin, daß Erfahrungen nicht übermittelt werden können. Höchstens mitgeteilt. Zwischen dem Zugemessenen und dem Unerträglichen liegt der ganze Weg der Erfahrung, den immer nur einer allein für sich gehen kann. So wie immer nur einer allein seinen Tod stirbt und keiner vom Tod etwas weiß. Nicht so schlimm . . . nein. Lange Zeit denkt man: nicht so schlimm. Wäre man nicht seelisch, geistig, bürgerlich, gesellschaftlich, als Mensch und Sohn und Vater und Mann erledigt, das übrige wäre wahrhaftig nicht so schlimm. Ruhe, ich sagte es Ihnen ja schon, Ruhe und Frieden. Keinen Ehrgeiz mehr, keine Geldquälereien, keine Aufregungen, keine Szenen, keine Zeitungen, Ordnung, Frieden, Ruhe. Durch die Mauern da kommt nichts mehr an einen ran. Freiheit, von der hat man genug. Sie hat einen ja dahin gebracht, wo man ist. Man sagt sich: Du brauchst sie nicht, die Freiheit, sie macht dich bloß zum Unband, wie man zum Säufer wird, wenn man den Keller voll Wein hat. Lange Zeit ist es so. Sie haben sicher von der spanischen Wasserfolter gehört. Der Betreffende wurde unter einen tropfenden Hahn gelegt, in bestimmten Pausen fielen die Tropfen auf eine bestimmte Stelle des Körpers. Zuerst war es nur lästig,

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