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Der Fall Maurizius

Der Fall Maurizius

Titel: Der Fall Maurizius Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Jakob Wassermann
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mit Scheingewichten. (Ein Raffinement der Selbstbeobachtung, das seinem Geist alle Ehre machte.) Gleichwohl, was ihn zu dem Sträfling trieb, war von ähnlicher Beschaffenheit wie das, was ihn nach dem Jungen verlangen machte, nicht so beleidigt und verfinstert, als wäre das Beste in einem verkannt worden, sondern hintergründiger, wie wenn man das Schicksal versöhnen müßte, die Schranken aber doch zu fest wären, als daß man sie durchbrechen könnte. (Diese absolut freudlosen, vom Wesen der Freundschaft nur aus verblaßten Jugendreminiszenzen wissenden Männer seines Schlags und seiner Generation gewahren ihre vollkommene Isolierung erst in einem sehr fortgeschrittenen Zeitpunkt ihres Lebens, und es kann wie bei manchen Frauen im Klimakterium passieren, daß sie mit verdunkeltem Willen das Entbehrte durch Handlungen zu erlangen suchen, die einer Umkehrung ihres bisherigen Charakters gleichkommen.) Es schwebte ihm vor: Aussprache, Verständigung, mehr noch ein (wie er nur zu gut wußte aussichtsloses) Sichverständlichmachen, dabei sträubte er sich gegen den Zwang, zuckte die Achseln über sich, ersann Vorwände, um sich die Notwendigkeit des neuerlichen Besuchs plausibel zu machen, konnte aber nicht verhindern, daß er beständig die gurrende Stimme im Ohr hatte, die zerhackten Gebärden, die flatternden Blicke des Gefangenen vor sich sah, den anmutig geschwungenen Mund, der an Napoleons Mund erinnerte, die kleinen Mädchenzähne, die schlohweißen Haare, und nebst alledem die Empfindung hatte, die sich schon beim ersten Gegenüberstehen geregt, wie wenn da ein Mensch mit dem Auftrag betraut wäre, der Welt Geheimnisse zu eröffnen, von denen sie bis jetzt keine Ahnung gehabt hatte.
    Kurz vor Kressa wurde die Fahrt durch eintretenden Regen verzögert, der Chauffeur mußte das Dach über den Wagen spannen. In der Kanzlei hatte er eine Viertelstunde zu warten, da man erst den Vorsteher benachrichtigte, der beim Rapport war. Als Pauli kam, teilte er ihm mit, der Sträfling 357 sei in der Nacht erkrankt, man habe aber auf seinen eigenen Wunsch davon abgesehen, ihn ins Lazarett zu schaffen, er liege in seiner Zelle. Übrigens sei es nach Angabe des Arztes nur eine leichte Unpäßlichkeit, Magenverstimmung oder dergleichen, der Patient fühle sich nach Einnehmen von kohlensaurem Natron ganz wohl, der Herr Baron könne ihn ohne weiteres sprechen. Der Schreiber mit den aufgeregten Augen erhob sich und reichte diensteifrig den Krankenzettel herüber. Zehn Minuten später, von der Gefängnisuhr schlug es eben neun, sperrte der Wärter die Zelle auf.
    Maurizius lag auf der eisernen Bettstelle, mit einer grauen haarigen Wolldecke bis zur Brust zugedeckt. Sein Gesicht war kalkig, die Augen schwammen wie zwei Kohlenstücke in den schwarzumränderten Höhlen. Beim Anblick des Oberstaatsanwalts richtete er sich jäh empor, mit einem Ausdruck, als wolle er sagen: Schon wieder? Noch nicht genug? Über dem rauhstoffigen Hemd trug er den Zwillichkittel, dessen Knöpfe am Hals offen standen. Herr von Andergast trat auf ihn zu, schaute von seiner imponierenden Höhe aus mit trübverzogener Stirn auf ihn herunter – und plötzlich streckte er ihm beide Hände hin. Indes er wartete, daß die Gebärde erwidert werde (sie wurde es nicht), schimmerten seine großen Zähne durch die Lippen, die wulstig aussahen, wie geschwollen. Man hätte denken sollen, das weiße Gesicht des Sträflings hätte nicht weißer werden können, und doch war es der Fall. Was soll das? fragte der stiere Blick erschrocken und böse, wozu das? was steckt dahinter? Das charakteristische Mißtrauen des langjährigen Zuchthäuslers. Herr von Andergast ließ die Arme sinken. Eine Weile stand er grübelnd. Dann schritt er zum Fenster, schaute in die wie mattes Seidengewebe niederschleifenden Regenschwaden, sodann nahm er den Holzstuhl, schob ihn neben die Bettstelle und ließ sich schwer darauf nieder. Die Fingerspitzen beider Hände aneinanderlegend, sagte er bedächtig: »Ich möchte diesmal auf alle Ihnen unbequemen Erkundigungen und Nachforschungen verzichten. Beunruhigen Sie sich also nicht. Es tut mir leid, daß Ihre Gesundheit unter der gestrigen Anstrengung gelitten zu haben scheint.« – Maurizius legte den Kopf, den er bisher in gefolterter Aufmerksamkeit aufgerichtet gehalten, auf das grobe Kissen zurück. »Bah, Gesundheit«, sagte er gleichgültig. Weiter nichts. – Herr von Andergast beugte sich vor. »Eine Frage«, fuhr er in dem völlig

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