Der Fall Maurizius
dann wurde es zum Schmerz, dann zur fürchterlichen Qual, schließlich wars bei jedem Tropfen, als ob ein Hammer auf den Schädel sauste, und Haut und Fleisch und Knochen wurden zur breiigen Wunde. Als ich in das Haus kam, da dacht ich: nicht so schlimm. Tag auf Tag verging, Woche um Woche, Monat um Monat, immer noch dacht ich: nicht so schlimm. Es gab sogar Stunden und Augenblicke, wo mir der aufs Unabsehbare hinaus abgeschlossene Zustand eine innere Sicherheit gab, wie wenn mir nun überhaupt nichts mehr geschehen könnte. Sie müssen eben bedenken, was hinter mir lag. Die Gedankenstarre mußte mal erst weichen. Na ja, dann hob sich der Nebel. Eines Tages sagte mir der Direktor: Sie sind nun fünfzehn Monate im Hause . . . ich erwähne nebenbei, daß man mich nie duzte wie die andern, zu jener Zeit wurden noch alle geduzt, ich nicht, da ich »Intelligenzler« war und gewesener Doktor. Nun, das durchfuhr mich wie ein Feuer, das mit den fünfzehn Monaten. Fünfzehn Monate, dachte ich, wo sind die hin? wo waren die überhaupt? was hatt ich von ihnen gesehen und gewußt? das ist doch sonst im Leben ein Abschnitt, den man bemerkt, im Guten wie im Bösen, draußen hatte man sozusagen die Zeit in den Knochen und Fingerspitzen . . . ich sagte: Herr Direktor, sind es wirklich fünfzehn Monate? Da lachte er und antwortete: Glücklicher, dem keine Stunde schlägt. Das war also der Anfang. Nämlich die Furcht davor, daß einem die lebendige Zeit aus den Sinnen schlüpft. Die Furcht wurde so grauenvoll, daß ich mich am Abend gewaltsam am Einschlafen verhinderte, um die Zeit zu halten, die Zeit zu wissen, wie man bei einem Pferderennen auf die Jockeis und ihre Farben starrt, um die Sekunde nicht zu verpassen, wo der Sieger das Ziel gewinnt. Aber es ist ein schlechter Vergleich. Ich möchte nicht vergleichen, es ist alles schief, alles falsch, schon weil es aus eurer Welt draußen ist. Die Angst um die Zeit fraß sich mir in die Nerven, grad wie wenn ich was zu verlieren gehabt hätte. Allmächtiger Himmel, was hatt ich denn zu verlieren oder zu versäumen . . . lebenslänglich! Sprechen Sie sich das vor: lebenslänglich! Was gibts da zu verlieren? Aber das Menschenhirn ist ein verrücktes Etablissement. Mit der einen Marter fand sich schon die zweite ein. Mit der Angst um die Zeit die Qual der Gleichzeitigkeit. Das war womöglich noch ärger. Ich stehe zum Beispiel im Arbeitssaal, die Hände verrichten das mechanische Ewig-Selbe, da überkommts mich: jetzt, in der Minute, geht der Postbote Lindenschmitt die Promenadenstraße herunter und läutet bei der Villa Kosegarten an oder: jetzt, in der Minute, begegnen sich Professor Stein und Professor Wendland an der Ecke der Universität und stecken die Köpfe zusammen, weil sie gegen Professor Straßmeyer wie gewöhnlich intrigieren. Ich seh sie. Ich seh den Postboten Lindenschmitt mit seiner Trinkernase, wie er in die Ledertasche greift und die Briefe hervorholt. Und wie die Magd in der Villa Kosegarten erst den Kopf zum Fenster herausstreckt und ihr Staubtuch schüttelt, bevor sie auf den Knopf drückt, der das eiserne Tor aufspringen macht. Ich seh's, weil ich's hundert- und tausendmal gesehen habe und weil sich daran schwerlich etwas verändert haben kann. Das wechselt mit jeder Stunde, in jeder Stadt, wo ich gewesen bin, auf den Bahnhöfen, in Hotels, in Kunstsammlungen seh ich die Verrichtungen, die eben zu der Stunde vor sich gehn, die Menschen, die ich gewohnt war, dort zu treffen, die Dinge, die von jeher dort zu finden waren und auch jetzt da sein müssen. Ich seh am Morgen die ersten Fuhrwerke durch die noch verschlafene Straße rollen und am Abend die ersten Bogenlampen aufflammen, ich seh eine kleine Bronzestatuette im Kasseler Museum, die ich immer gern gehabt, und denke mir: Sonderbar, daß sie dasteht und ich weiß, daß sie dasteht, es ist, als könnt ich sie greifen, doch ebenso könnt ich mir einbilden, den Sirius zu greifen, es ist und ist nicht, ist da und ist nicht da, und so mit allem, mit Bäumen, die ich kenne, mit kleinen Jungen, die ich kenne und die traumhafterweise größer werden, mit Gegenständen, die mir gehört haben und von denen ich mich frage, wo sie jetzt wohl sind, in dieser jetzigen Minute, irgendwo müssen sie doch sein . . . Es ließ mich nicht los und nicht los, und wie die Angst um die Zeit verursachte, daß die Zeit langsamer und langsamer floß, jeden Tag fühlbarer wurde, immer die heutige, verstehen Sie, wenn die einzelnen Tage
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