Der Fall Maurizius
damals überfüllt, ich hatte mich indessen einiger gefährlicher Anschläge von dem Kerl zu erwehren, der mich überfallen hatte, auch das ging vorüber, dann kriegt ich also meine Zelle. Und da begann was Neues, gewissermaßen eine neue Periode . . .«
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Maurizius verstummt. Die bläulich-weiße Stirn vibriert schwach wie Milchhaut vor dem Kochen, der Adamsapfel steigt schluckend auf und ab. Herr von Andergast sitzt in granitener Unbeweglichkeit auf dem Stuhl. Es sieht aus, als schlafe er. Er ist aber so weit davon entfernt, daß ihm die Pause, die der Sträfling hat eintreten lassen, zur Ewigkeit wird.
»Das Neue«, fängt Maurizius alsbald wieder an, »zeigte sich zunächst darin, daß es mit dem Schlafen aus war. Ich verfiel und kam von Kräften. Das Nichtschlafenkönnen hatte seinen Grund in unaufhörlichem Bohren in der Vergangenheit. Nicht mehr mit Wenn und Hätte diesmal. Es waren lauter Auseinandersetzungen mit Menschen, Rechtfertigungen, Zurredestellungen, Abrechnungen, beständiges, nächtelanges, tagelanges Grübeln über die Ursache von bestimmten Worten, Geschehnissen und Handlungen, über die wirkliche und wahre Beschaffenheit von dem Soundso und der Soundso, über die Illusionen, die ich mir über den und den gemacht, die Fehler, die ich bei der und der Gelegenheit begangen, das Unrecht, das mir der und der angetan, das ich dem und dem zugefügt, und die betreffende Person stand dann leibhaftig vor mir da, ich haderte mit ihr, erinnerte an vergessene Tatsachen, brachte die scharfsinnigsten Argumente vor, und das drehte sich um und um und weiter und weiter wie ein Rad, das den Abhang hinuntersaust. Bald stritt ich mich mit einem Drucker, der mich, vielleicht vier Jahre vorher, übers Ohr gehauen, bald nahm ich mir einen Kommilitonen vor, irgendeinen unbedeutenden Burschen, der mich verleumdet hatte. Einmal war's ein hitziger Diskurs mit einem Kollegen von der Fakultät, den ich wegen seines stumpfsinnigen Klassizismus angriff, ein andermal ein Renkontre mit einer Geheimrätin, die meinen Gruß nicht erwidert hatte und der ich Wahrheiten über ihren Kastendünkel und ihren Snobismus ins Gesicht sagte, wie ich sie in Wirklichkeit natürlich nie zu sagen mich getraut hätte. Oder das: Ich kränkte mir das Herz ab, sechs Jahre nachdem es geschehen, über den Verrat, den mein bester Jugendfreund an mir verübt hatte, und sprach mit ihm, hielt ihm alles vor, und er sah seine Niedertracht ein und bat mich um Verzeihung. Umgekehrt wieder entsann ich mich, wie ich selber Verrat und Untreue begangen, besonders eine junge Frau kam mir nicht aus dem Sinn, der hatte ich übel mitgespielt, und ich bot alle Beredsamkeit und Seelenkraft auf, um sie zu versöhnen. Es war eine gewisse vorsätzliche Selbstschonung dabei, daß es anfangs immer um fremde oder fremdgewordene Menschen ging, ich beschäftigte mich je intensiver mit ihnen, je mehr ich spürte, daß ich dadurch die andern, die nahen, von mir abhalten konnte. Aber es ließ sich auf die Dauer nicht verhindern. Ich gewann noch Zeit durch die Verhöre, in die mich der Untersuchungsrichter gezogen, die könnt ich oft Frage für Frage reproduzieren, das nahm Stunden und Tage in Anspruch, schließlich vermocht ich alles zu meinen Gunsten zu wenden, indem ich den Mann durch meine Erklärungen und Einwände dermaßen stutzig machte, daß er zugab, die Verdachtsgründe seien hinfällig geworden. Das genoß ich dann wie einen Sieg und war ganz aufgeregt vor Freude. Aber in dieser Freude fiel mir etwa mein Benehmen gegen den Vater ein, wie roh und undankbar ich gewesen und wie er sich darüber gehärmt haben mußte, da macht ich ihm allerhand Geständnisse und beschloß, ihm zu schreiben, dachte mir auch einen viele Seiten langen Brief an ihn aus, der ihm begreiflich machen konnte, daß ich in einer Zwangslage war . . . Immer noch Entschuldigungen, immer noch Selbstberäucherungen, immer noch der Alte . . . Aber jetzt trat Elli dazwischen und hielt mir vor, was ich mir noch nicht vorzuhalten gewagt, meine von Grund auf verlogene Natur, da rang ich mit ihr um ein wenig Gnade, fand aber keine Gnade, bettelte um Liebe, fand aber keine Liebe, da nützte keine Reue und Zerknirschung, wenigstens anfangs nicht, später wurde sie milderen Sinns, ich konnte ihr alles vorstellen und mich von den ärgsten Vorwürfen reinigen, ja einmal weinte sie sogar, und einmal spielte sich ein aufregendes Drama zwischen uns ab, nach einer gräßlichen Szene hatte sie sich im Bad die Adern
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