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Der Fall Maurizius

Der Fall Maurizius

Titel: Der Fall Maurizius Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Jakob Wassermann
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aufgesammelt und vorüber waren, da war's, als hätte sie ein riesiges Raubtier alle mit einem Schwapp hinuntergeschlungen, wie also das durch die Angst um die Zeit bewirkt wurde, so machte das entsetzliche Gleichzeitigkeitsgefühl, daß alles vor einem sich in maßlosen Raum hindehnte. Ich wollte gar nicht glauben: hier sind Wände, ich schritt auf eine Wand zu, als müsse sie sich teilen wie der Vorhang im Theater. Raum, Raum, Raum, immerzu, daß ich eingesperrt war, schien ein blöder Witz. Doch das sind bloß Läppereien gegen das, was dann kam . . .«
    Er drehte ein paarmal den Kopf hin und her, legt dann die Hände mit verschlungenen Fingern auf den Schädel und fährt fort: »Freilich, aus der Zeitqual ging alles andere hervor, namentlich das eine . . . das . . . wie soll ich's erklären, die Wenn-Qual, die Wenn- und Hätte-Qual. Wenn ich in der und der Situation das und das getan, bei dem und dem Wortwechsel das und das geantwortet hätte, wie dann alles anders gekommen wäre. Wenn ich dem Waremme an dem und dem Tag nicht die Hand gegeben, sondern gesagt hätte, so und so, ich hab es satt . . . Wenn ich an jenem vierundzwanzigsten Oktober den Personenzug und nicht den D-Zug benutzt hätte, wie sich dann alles abgespielt hätte, ganz anders, ganz anders, und das Ausmalen, wie es sich abgespielt hätte. Alle Vergangenheit wurde wie in einem Wundfieber neu gedichtet und arrangiert, ich sah den Unsinn und die Torheit, die Übereilungen, und daß man die Zeit nicht zurückschrauben konnte, um's zu ändern, es lag ja so nah, es zu ändern, es war so einfach, das zernagte das Herz, das verstörte den Kopf. Und Reue und Bedauern, verspätete Einsicht: dem hast du zuviel vertraut, dem zuviel geglaubt, dort war dein Argwohn fehl am Ort, da hättest du dich offen mitteilen müssen. Und was man alles vergessen zu haben meint . . . vergessen, den wichtigen Brief an Elli zu schreiben, der das gräßliche Mißverständnis verhütet hätte, vergessen, der Anna zu sagen, was mich und sie und die Frau vielleicht gerettet hätte, daß es mein heiliger Vorsatz war, alleine auszuwandern, wenn alles fehlschlug und mir nur Hildegard zu sichern. Zwanzigmal am Tag ist einem, als könne man's nachholen und wiedergutmachen, und wenn man dann zum Bewußtsein kommt, wie unmöglich es ist, ein für allemal unmöglich, ist's ein rasendes Aufknirschen gegen das Unmögliche. Das gewöhnt sich am schwersten: der gefesselte Wille, nein, das ist dumm ausgedrückt: daß man nicht mehr wollen kann. Das Organ in einem, das will, verkümmert. Beispielsweise: Die Zähne sind da zum Beißen, schön; kaum beißt du auf ein Stück Brot, fällt dir ein Zahn aus dem Mund, und erst wenn alle Zähne weg sind, hast du dich gewöhnt. So ist das. Infolgedessen geschieht es, daß das bloße Sein und Vonsichwissen was eigentümlich Subtrahiertes bekommt, daß man anfängt, sich in jeder Lebensregung zu mißtrauen. Es schwindelt einem beim Gehen, es überläuft einen der Schauder, wenn man eine Treppe hinuntersteigen soll, jedes Fenster ist wie ein Abgrund, man wagt sich nicht heran, aus dem Bett aufstehen ist wie eine große Gefahr, Essen und Trinken hat was komisch Anachronistisches, mit andern reden ist wie mit sich selber reden, lachen und weinen kann man nicht, das ist draußen geblieben. Man will immer noch, man will und will, aber es ist nichts da zum Wollen. Das macht einen toll. Das Aufregendste dabei ist, daß mit dem Wollen auch die Worte verfaulen, mit denen man will. Alles ist ja so eingeschränkt, das Auf und Ab, der Bereich leer, kein Wunsch, kein Hindrängen, bloß das gemeine Bedürfnis wagt sich vor, im Innern spinnt das Hirn, kocht und spinnt bis zur Verzweiflung. Es ist, wie wenn man in einem Wald geht und die Wege hinter einem verschwinden, so schält sich die Sprache von einem ab, ihr Kostbares ist nicht mehr da, ihr Zartes welkt ab, die höheren Begriffe zerschmelzen in was Ordinäres und Schmutziges. Manchmal steigen Erinnerungen auf wie feurige Drachen, der Atem steht einem still, und es ist doch nichts weiter als irgendein Beisammensein mit einem Freund oder daß einem die liebe Hand mal eine Blume geschenkt hat. Aber es ist unermeßlich weit, man wundert sich, man könnte schluchzen vor Sichwundern, daß man's erlebt hat. Zwei- oder dreimal im Jahr bin ich aus dem Schlaf aufgefahren und hab geschrien: Ich? Ich, mit einem Fragezeichen. Sonst nichts. Ich. Aber es ist so eine Sache mit dem Ich, hören Sie mal den Leuten, die jahrelang im

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