Der Fall Maurizius
geöffnet, ich stürzte zu ihr, sie lag in der Wanne, schon still, das Wasser ganz rot, und zwischen ihren Schenkeln kniete mit einem runden Spiegel in der Hand mein Töchterchen Hildegard und sah mich mit aufgerissenen Augen an, als merke sie jetzt, was ich für ein Mensch sei. Keine Träume, Herr, ich erzähle Ihnen da keine Träume. Aber was denn? werden Sie fragen . . . was denn, wenn ich zum Beispiel Gregor Waremme gegenüberstand und ihm so lang mit Beschwörungen und Beweisen zusetzte, bis er zusammenbrach und ich das Gefühl hatte: jetzt bist du erledigt, Satan . . . was denn? was denn? Eine Orgie des Treppenwitzes, das vielleicht, ein Pandämonium des Nichtgesagten, Nichtgetanen, Zuspätgesagten, Zuspätgetanen, Gewünschten, Gefürchteten, alles dessen, woran man hintennach verblutet und erstickt, wahre Wirklichkeit und scheinende Wirklichkeit ineinander verworren, das Gesetz des Geschehens mit kasuistischer Leidenschaft aus dem Verlauf des Geschehens gehoben und umgekehrt zu lesen wie Spiegelschrift. Obwohl das alles ungefähr vom Mai bis in den September gedauert hatte, war die wichtigste Person noch nicht zur Erscheinung gekommen . . . Ich sage Erscheinung, denn in Gedanken hatte ich sie natürlich oft gestreift, den Namen oft gedacht, er war ja wie der Tragbalken, der das Ganze hielt, erst das Lügenleben, jetzt das Sühneleben, aber es war mir gelungen, ihn zu verschleiern. Mit unsäglicher List hatte ich's fertiggebracht, dem Bild auszuweichen, ich hatte so große Angst davor, es zu sehen und festzuhalten, daß ich mich mit wahrer Wut in die gleichgültigsten Erinnerungsvorgänge stürzte und sie aufbauschte, bis mein Gehirn einem brennenden Karussell glich. Vergebliche Mühe. Als die Nächte länger wurden, als der Winter kam, da . . . Plötzlich brach es über mich herein, von einer Stunde zur andern. Ich will mich nicht schämen. Ich habe mir vorgenommen, alles zu sagen. Es ist über das hinaus, was Scham zu sagen verbietet, es hat damit nichts mehr zu tun. Wer weiß, ob ein anderer je in die Lage kommt, so daß ihm nichts mehr an dem liegt, wie seine Worte auf ihn zurückwirken oder von andern beurteilt werden, nur an dem, daß es einmal heraus muß aus der unterirdischen Kammer, aus dem Grab heraus, wer weiß, ob auch bei mir die Stunde wiederkommt, das ist nicht so sicher, mir ist zumut, als wäre demnächst alles abgeblendet und ich wüßte dann selber nicht mehr so Bescheid. Sichbekennen ist ein Erleuchtungszustand, bei dem man sich nicht mehr lieben, nicht mehr hassen darf. Also das ging so mit Anna und ihrem Erscheinen . . . Zuerst war sie die Anna, das Mädchen, das Weib, das ich gekannt, das mir . . . na, wozu das, ich denke, Sie verstehen. Sie kam in einem Kleid mit Rüschen oder Spitzen, mit ihrer schönen Frisur, in dem blauen oder grauen Schal, ich kannte ja das auch so genau, es war alles so schön, so einzig. Die Augen, der Mund, die Haarfarbe, die Lippen, und wie sie bisweilen eckig die Hand bog und wie sie fünf flinke Schritte machte, dann auf einmal zwei langsame, wie sie das linke Lid ein wenig einkniff, wenn sie lächelte, und wie sie das Kinn in die Höhe schob, wenn sie eine Frage an einen richtete, und wie sie beim Nachdenken die Wange in die Hand schmiegte . . . Alles das, das einzige, nur ihr eigene, das Annahafte . . . Und da wußte ich: nie mehr. Du kannst das nie mehr sehen. Du wirst das nie mehr sehen. Nie mehr. Sie lebt, sie geht in einem Zimmer herum, sie spricht mit Menschen, sie schmiegt die Wange in die Hand, schiebt fragend das Kinn in die Höhe, sie trägt das Kleid mit den Rüschen: du wirst es nie mehr sehen. Sie kennen vielleicht das Gedicht von Poe: »Der Rabe«, jede Strophe schließt mit dem Refrain: Nimmermehr. Krächzt der Rabe: nimmermehr. Ich sagte es jeden Tag vor mich hin: Krächzt der Rabe: nimmermehr. Nun schleppt ich ja eine unverlöschliche Hoffnung in mir herum. Daß alles einmal an den Tag kommen, daß ich wieder rein in der Sonne dastehn würde. Aber sobald mir Annas Bild erschien, zerflossen die Hoffnungen sofort in Dunst, und ich wußte mit tödlicher Klarheit: nie mehr. Da meine ganze Existenz noch immer zu ihr hinüberfloß, konnte mir das Bild nicht lügen, also log die Hoffnung. Aber damit fand ich mich ab, solang noch das war, diese . . . diese Sehnsucht . . . ach, das besagt nichts: Sehnsucht. Dafür gibt es kein Wort. Es ist die Qual aller Qualen, das Absterben ohne Tod. Man glaubt, man könne es nicht einen Tag, nicht eine
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